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Heimerziehung der Nachkriegszeit ab 1945
- auch Institutionelle und Personelle NS-Kontinuitäten
Zuletzt AKTUALISIERT 13.07.2023 !
Seiteninhalt:
- AG MOS ***
- Online-Artikel zur Heimerziehung der Nachkriegszeit ab 1945
2.1 Online-Artikel zur institutionellen und personellen Nazi-Kontinuität in der Heimerziehung nach 1945
2.2 Online-Artikel zu "Kinder und Jugendliche in stationären Einrichtungen der baden-württembergischen Nachkriegszeit: Erfahrungen von Leid und Unrecht"
2.3 Online-Artikel zur DDR-Heimerziehung - YouTube-Videos zur Heimerziehung nach 1945
3.1 YouTube-Videos zur institutionellen und personellen Nazi-Kontinuität in der Heimerziehung nach 1945
3.2 YouTube-Videos zur DDR-Heimerziehung - Online-Artikel zur Staatlichen Verantwortung, u.a. des Jugendamtes, in Diskussion und Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in Kinderheimen sowie im kirchlichen Kontext
2. Online-Artikel zur Heimerziehung der Nachkriegszeit ab 1945
Heimerziehung: Kindheit und Jugend in stationären Einrichtungen
Gefördert durch die Baden-Württemberg-Stiftung
Menschen, die sich in der Nachkriegszeit in öffentlicher Fürsorge befanden, haben oftmals traumatische Erfahrungen gemacht. Dies betrifft Menschen, die in Kinder- und Jugendheimen lebten ebenso wie diejenigen, die in Einrichtungen der Behindertenhilfe und in Psychiatrien untergebracht waren. Dieser Rechercheratgeber dient dazu, Betroffene und weitere interessierte Personen bei eigenen Recherchen nach Unterlagen zu unterstützen. In den Kapiteln unten finden Sie Hilfestellung zu den folgenden Themen:
1. Nachweis eines Aufenthaltes
2. Personenbezogene Akten aus Einrichtungen, Jugendämtern, Amtsgerichten und weiteren Stellen.
3. Einrichtungen und ihr Personal
4. Suche nach Angehörigen
Die unten und im Text verlinkten Vollmachten sind keine Rechercheaufträge an das Landesarchiv, sondern dienen der eigenständigen Recherche. Wenn Sie Hilfe bei der Recherche benötigen, finden Sie hier Kontaktdaten.
Hinweis für Betroffene
Die Beschäftigung mit stationären Aufenthalten in der Kindheit kann aufwühlend sein. Beim Lesen von Akten stößt man häufig auf befremdliche, sogar abwertende Zuschreibungen und Formulierungen. Eine sehr kritische Sicht auf die Kinder und Jugendlichen war in der Nachkriegszeit und bis in die 1970er Jahre leider üblich und sagt mehr über die Haltung des pädagogischen Personals aus als über die Kinder und Jugendlichen. Vielen hilft es, die Recherche nicht alleine durchzuführen, sondern gemeinsam mit einer Vertrauensperson.
Welche Informationen benötigen Sie, um die Recherche zu beginnen?
Name, Vorname, Geburtsdatum und ggf. Geburtsname der untergebrachten Person,
Name der Einrichtung
(Ungefährer) Zeitraum des Aufenthaltes in der Einrichtung.
Wichtige Informationsquellen und Tipps für die Recherche
Jugendliche beim Essen, Stiftung Liebenau 1970; Quelle: Haus der Geschichte Baden-Württemberg, Sammlung Rupert Leser
- Das Verzeichnis der Kinder- und Jugendheime enthält gut 500 Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, die zwischen 1949 und 1975 in Baden-Württemberg existierten. Hier finden Sie Angaben über Adresse, Art der Einrichtung sowie Aktenlage und Kontaktdaten. >>>
- Das Verzeichnis der Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Psychiatrie enthält entsprechende Angaben für stationäre Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Psychiatrie zwischen 1949 und 1975. >>>
Wenn Sie eine Einrichtung in den Verzeichnissen nicht finden sollten, schreiben Sie uns gerne an nora.wohlfarth@la-bw.de
Für Einrichtungen, die sich außerhalb Baden-Württembergs befanden, oder außerhalb des Zeitraums 1949-1975 bestanden, finden Sie hier ausführliche Hinweise für die eigene Recherche.
- Das Inventar Heimerziehung in Baden-Württemberg 1949-1975 listet Bestände des Landesarchivs Baden-Württemberg auf, die einen Bezug zur Heimerziehung in der Nachkriegszeit aufweisen. Andere Archive und deren Bestände finden Sie im Archivportal-D oder unter Archive BW.
Beziehen Sie bei Ihrer Suche diese Ressourcen sowie alle Kapitel des Rechercheratgebers mit ein. Für Ihre Anfragen an die verschiedenen Stellen außerhalb des Landesarchivs haben wir Vorlagen erstellt, die Sie an der passenden Stelle im Text finden.
https://www.landesarchiv-bw.de/de/recherche/rechercheratgeber/71626
Nachweis eines Aufenthaltes
Personenbezogene Akten 1: Die Einrichtungen
Die Aktenlage in den Einrichtungen und Kliniken ist sehr unterschiedlich. In manchen Fällen sind keine Unterlagen mehr vorhanden. Ob und wo die für Sie relevante Einrichtung noch personenbezogene Akten über die untergebrachten Kinder verwahrt, erfahren Sie über die in der Einleitung genannten Verzeichnisse.
Verwenden Sie für Ihre Anfrage bei den aktenführenden Stellen, die in den Verzeichnissen genannt werden, gerne unsere Vorlage
Wenn Sie eine Einrichtung suchen, die sich nicht in einem der beiden Verzeichnisse befindet, weil sie
vor 1949 oder nach 1975 existierte,
außerhalb Baden-Württembergs liegt,
uns noch unbekannt ist,
folgen Sie den Hinweisen im Kapitel „Einrichtungen: Informationen und Aktenrecherchen“ Dort finden Sie Hinweise dazu, wie Sie selber eine Einrichtung finden, über die Sie noch nicht viel wissen.
Oder aber sie wenden sich direkt an uns. Schreiben Sie uns gerne eine E-Mail an heimerziehung@la-bw.de
Was können Akten aus Einrichtungen aussagen?
Die Akten aus den Einrichtungen sind meist sehr aussagekräftig. In ihnen ist der gesamte Aufenthalt des Kindes in einer Einrichtung dokumentiert. Die Einrichtung kommunizierte mit verschiedenen Stellen, wie den Eltern, Jugendämtern oder auch Gerichten über Fragen, die das Kind betreffen. Häufig sind ausführliche (Entwicklungs)Berichte enthalten. Tendenziell sind jüngere Akten umfangreicher als ältere. Es ist jedoch gut möglich, dass Ereignisse, die für die Betroffenen bedeutsam waren, nicht in den Akten dokumentiert sind.
Personenbezogene Akten 2: Die Jugendämter
Die Jugendämter waren (und sind) zuständig dafür, gerichtlich angeordnete Vormundschaften und Pflegschaften durchzuführen. Jugendämter führten ebenfalls die gerichtlich angeordneten Maßnahmen der Fürsorgeerziehung und der freiwilligen Erziehungshilfe durch. Auch Einweisungen in psychiatrische Kliniken konnten über die Jugendämter erfolgen.
Die Akten über die Durchführung der Maßnahmen existieren nur noch in Einzelfällen. Akten aus den Jugendämtern müssen nach dem Ablauf bestimmter Fristen (min. 10, max. 60 Jahre nach Volljährigkeit) dem zuständigen Archiv zur Aufbewahrung angeboten werden. Diese können schon aus Kapazitätsgründen nur einen kleinen Teil dieser Akten übernehmen.
Wie können Sie herausfinden, ob es noch eine Jugendamtsakte gibt?
Über den Wohnort der gesuchten Person bzw. deren Eltern können Sie das zuständige Jugendamt identifizieren. Es befand sich in der Regel an dem Ort bzw. in dem Landkreis, wo die gesuchte Person gelebt hat, bevor sie in die Einrichtung kam. Das zuständige Jugendamt wechselte nur in Ausnahmefällen, z.B. bei Umzügen der Eltern/Sorgeberechtigten.
Für Adoptionen waren ebenfalls die Jugendämter sowie Adoptionsvermittlungsstellen in freier und kirchlicher Trägerschaft zuständig. Gehen Sie ebenfalls vom Wohnort vor der Adoption aus und kontaktieren Sie Caritas und Diakonie vor Ort. Es kann sich lohnen, die Suche auf angrenzende Landkreise oder Städte auszuweiten.
Bei der Suche nach einer Akte aus einem Jugendamt wenden Sie sich bitte an
das zuständige Stadtjugendamt (für kreisfreie Städte) oder Kreisjugendamt (für Wohnorte innerhalb eines Landkreises)
an das entsprechende Stadt- oder Kreisarchiv, das Sie über das Archivportal-D finden können.
Bitte beachten Sie: Seit der Kreisreform 1973 haben sich in Baden-Württemberg die Landkreisgrenzen verändert. Über die Verwaltung des jeweiligen Wohnortes können Sie erfahren, welcher Landkreis heute zuständig ist.
Anfrage an das Jugendamt
Stellen Sie Ihre Anfrage am besten schriftlich (Post/E-Mail) an die zentrale Poststelle des Jugendamts. Alle Jugendämter in Baden-Württemberg finden Sie in dieser Liste. Die Anfrage sollte die in der Einleitung genannten Angaben (Name, Geburtsdatum, Zeitraum) enthalten. Weitere hilfreiche Angaben sind die Namen und Geburtsdaten der Eltern oder, wenn bekannt, ein Aktenzeichen.
Sie können gerne unsere Vorlageverwenden.
Was können diese Akten aussagen?
Im Rahmen von Vormundschaften oder Pflegschaften übernahmen Jugendämter in formaler Hinsicht die Aufgaben von Eltern. Daher lassen sich in der Regel die Eckdaten in der Kindheit sowie die Heimaufenthalte der Kinder und Jugendlichen aus diesen Akten rekonstruieren. Häufig wird der Grund der Heimeinweisung genannt und die Verhältnisse im Elternhaus geschildert. Weitere Informationen über Vormundschafts- und Pflegschaftsakten finden Sie hier.
Personenbezogene Akten 3: Die Vormundschaftsgerichte
In Württemberg waren die Vormundschaftsgerichte bei den Notariaten, in Baden bei den Amtsgerichten angesiedelt. Sie waren dafür zuständig, Vormundschaften oder Pflegschaften und weitere Maßnahmen, wie die Fürsorgeerziehung oder die freiwillige Erziehungshilfe, anzuordnen. Auch ein stationärer Aufenthalt in unterschiedlichen Einrichtungen kann gerichtlich angeordnet werden. Detaillierte Informationen über die rechtlichen Hintergründe einer Heimeinweisung finden Sie hier. Die Rechercheschritte sind von der juristischen Begründung der Maßnahme unabhängig. In jedem Fall führten die Gerichte Akten. Diese existieren nur noch in Einzelfällen.
Wie können Sie herausfinden, ob es noch eine Gerichtsakte gibt?
Bei der Notariatsreform 2018 wurden alle staatlichen Notariate aufgelöst. Die Akten wurden entweder an die Amtsgerichte oder die zuständigen Staatsarchive übergeben. Über den Wohnort der gesuchten Person bzw. deren Eltern können Sie das zuständige Amtsgericht identifizieren. Dieses befand sich in der Regel an dem Ort bzw. in dem Bezirk, wo die gesuchte Person gelebt hat, bevor sie in die Einrichtung kam. Die Akten müssen nach Ablauf von Aufbewahrungsfristen (min. 10, max. 30 Jahre) dem zuständigen Staatsarchiv zur Aufbewahrung angeboten werden. Bis dahin – und in Ausnahmefällen auch deutlich länger – befinden sich die Akten in der (Alt)registratur des Amtsgerichts. Bei der Suche nach einer Akte aus einem Amtsgericht wenden Sie sich bitte an
das zuständige Amtsgericht oder
die zuständige Archivabteilung des Landesarchivs Baden-Württemberg
Anfrage an das Amtsgericht
Stellen Sie Ihre Anfrage am besten schriftlich (Post/E-Mail) an die zentrale Poststelle des Amtsgerichts. Dies finden Sie über das Justizportal Baden-Württemberg Die Anfrage sollte die in der Einleitung genannten Angaben (Name, Geburtsdatum, Zeitraum) enthalten. Weitere hilfreiche Angaben sind die Namen und Geburtsdaten der Eltern oder, wenn bekannt, ein Aktenzeichen.
Sie können gerne diese Vorlage verwenden.
Anfrage an das Landesarchiv
Die Archivabteilungen des Landesarchivs verwahren dauerhaft ausgewählte Unterlagen aus den baden-württembergischen Amtsgerichten und Notariaten. Wenden Sie sich mit Ihrer Anfrage bitte direkt an das zuständige Staatsarchiv. Die zuständige Archivabteilung finden Sie, indem Sie herausfinden, in welchem Regierungsbezirk das Amtsgericht liegt:
Regierungsbezirk Freiburg: Staatsarchiv Freiburg
Regierungsbezirk Karlsruhe: Generallandesarchiv Karlsruhe
Regierungsbezirk Stuttgart: Staatsarchiv Ludwigsburg
Regierungsbezirk Tübingen: Staatsarchiv Sigmaringen
Auch hier kann die Angabe eines Aktenzeichens, sofern bekannt, hilfreich sein. Mithilfe des Inventars können Sie sich vorab informieren, ob relevante Unterlagen in den Amtsgerichts- oder Notariatsbeständen verwahrt werden.
Was können diese Akten aussagen?
Akten aus den Amtsgerichten enthalten immer den gerichtlichen Beschluss, aber keine Berichte über die Kinder. Sie enthalten grundlegende Informationen über das Kind, für das eine Maßnahme angeordnet wird. Sie können auch Informationen über die Eltern und Geschwister enthalten, ebenso die Begründung für die angeordnete Maßnahme. Weitere Informationen über Vormundschafts- und Pflegschaftsakten finden Sie Weitere Informationen über Vormundschafts- und Pflegschaftsakten finden Sie hier.
Personenbezogene Akten 4: Weitere Möglichkeiten
Es gibt weitere Stellen, an denen Unterlagen entstanden, wenn Kinder und Jugendliche für längere Zeit stationär untergebracht wurden. Allerdings sind diese Akten seltener erhalten als in den oben geschilderten Fällen.
Sozialämter
Maßnahmen der Eingliederungshilfe, u.a. die Einweisung in eine Einrichtung der Behindertenhilfe wurden durch ein Sozialamt vorgenommen. Auch hier sind Akten nur noch in Einzelfällen zu erwarten. Vergleichbar zu den Jugendämtern könnten Unterlagen noch in der (Alt)registratur des Amtes oder aber dem zuständigen Stadt- oder Kreisarchiv vorhanden sein. Für die Anfrage gehen Sie vor wie im Fall der Jugendämter, siehe Kapitel „Personalakten 2: Die Jugendämter.“ Heute heißen die Ämter zum Teil anders (Amt für Jugend und Soziales z.B.) und in manchen Regionen außerhalb Baden-Württembergs haben Verbände (Wohlfahrtsverbände oder z.B. im Rheinland Landschaftsverbände) diese Aufgaben übernommen. Erkundigen Sie sich im Zweifelsfall bei der jeweiligen Stadt- oder Kreisverwaltung.
Wohlfahrtsverbände
In ihrer Funktion als oberste Fürsorgeerziehungsbehörde haben die Landeswohlfahrtsverbände die Durchführung der Fürsorgeerziehung übernommen. Von 1952 bis 1964 waren die Landesfürsorgeverbände Württemberg, Baden und Hohenzollern, ab 1964 das Landesjugendamt Baden-Württemberg zuständig. Vereinzelt sind Unterlagen im Landesarchiv vorhanden, diese sind im Inventar nachgewiesen.
Einrichtungen und ihr Personal
Sie suchen Informationen über verschiedene Einrichtungen, oder Akten über die dort betreuten Kinder und Jugendlichen? Für baden-württembergische Einrichtungen verwenden Sie bitte
Das Verzeichnis der Kinder- und Jugendheime und
Das Verzeichnis der Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Psychiatrie
Beide enthalten Informationen zu Namen, Adressen. Trägern und Bestandszeiten der Einrichtungen, außerdem Angaben zu personenbezogenen Akten und weitere über die Einrichtungen existierenden Unterlagen. In allen Fällen finden Sie auch die Kontaktdaten der aktenverwahrenden Stelle. Diejenigen Akten über Einrichtungen, die sich im Landesarchiv befinden, sind im Inventar nachgewiesen, dazu gehören bspw. Aufsichtsakten aus Gesundheitsämtern.
In den Verwaltungsunterlagen und den Aufsichtsakten sind üblicherweise keine Angaben oder Berichte über Kinder und Jugendliche enthalten, die in den Einrichtungen untergebracht waren. Hierin finden Sie vielmehr Informationen zu Strukturen, Personal, Bauweise, Regeln oder Konzeption der Einrichtung, Wenn Sie Berichte über einzelne Kinder und Jugendliche suchen, verwenden Sie bitte die vorherigen Kapitel über die Suche nach personenbezogenen Akten.
Für die Suche nach Einrichtungen, die sich nicht in den Verzeichnissen befinden, da sie
vor 1949 oder nach 1975 existierten,
außerhalb Baden-Württembergs liegen oder
uns noch unbekannt sind, schreiben Sie uns bitte bitte an heimerziehung@la-bw.de.
Hilfestellung für die eigenständige Suche nach Einrichtungen und Unterlagen finden Sie hier.
Spruchkammerakten
Es ist möglich, für die Heimleiterinnen und Heimleiter, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Einrichtungen Spruchkammerakten zu finden, also Akten, die im Zuge des Entnazifizierungsverfahrens nach dem Nationalsozialismus entstanden sind. Voraussetzung ist, dass die Person im Jahr 1945 bereits volljährig war, d.h. vor 1924 geboren ist und nach Kriegsende in Baden-Württemberg wohnhaft war. Sie finden alle notwendigen Hinweise für die Suche nach diesen Unterlagen im Rechercheratgeber Entnazifierung.
Diese Möglichkeit gilt ebenso für Personal aus Einrichtungen in anderen Bundesländern. Hier sind ebenfalls die Landes- und Staatsarchive für die Unterlagen rund um die Entnazifizierung zuständig.
Suche nach Angehörigen
Sie suchen Angehörige, zu denen aufgrund eines stationären Aufenthaltes der Kontakt abgebrochen ist? Für weitere Familienforschung verwenden Sie die Rechercheratgeber Familienforschung
Viele der für eine weitere Recherche nötigen Angaben können Sie in Akten finden. Für die Ermittlung dieser Akten verwenden Sie bitte die Anleitungen zur Suche von personenbezogenen Akten 1-4.
Welche Informationen benötigen Sie, um die Recherche zu beginnen?
Je mehr Informationen Sie über die gesuchte Person bereits haben, desto erfolgversprechender ist die Recherche. Wenn möglich, geben Sie bei der Suche die folgenden Informationen an:
Voller Name der gesuchten Person mit möglicherweise abweichenden Schreibweisen und Namenswechseln (z. B. bei Adoption oder bei Frauen nach der Heirat). Geben Sie alle bekannten Vornamen an.
Das Geburtsdatum oder der geschätzte Zeitraum der Geburt.
Geben Sie an, in welcher Beziehung Sie zu der gesuchten Person stehen.
Sollten Ihnen nur wenige Informationen vorliegen, stellen Sie diese möglichst knapp und übersichtlich zusammen. Beschränken Sie sich auf die bekannten Angaben.
Meldebehörden
Wenn Sie den aktuellen Wohnort eines Angehörigen suchen, beginnen Sie Ihre Suche an dem letzten Ihnen bekannten Wohnort und erfragen Sie die Meldedaten wie im Kapitel „Nachweis eines Aufenthaltes“ beschrieben. Arbeiten Sie sich von dort aus über die jeweiligen Abmeldeorte voran. Für die Melderegisterauskünfte können Kosten anfallen.
Standesämter
Wenn Sie grundlegende Informationen über Ihre Eltern und Angehörigen suchen und Ihnen selber keine Dokumente vorliegen, helfen Geburtsurkunden weiter. Wenden Sie sich an das Standesamt ihres Geburtsortes oder des Geburtsortes der gesuchten Person. Die Geburtsurkunde gibt Auskunft über Namen und Geburtsdatum der Eltern. Geburtsurkunden werden aus den Geburtsregistern erstellt, diese werden 110 Jahre am Standesamt des Geburtsortes aufbewahrt und fortgeführt. Danach werden sie von den zuständigen Stadt- oder Kreisarchiven dauerhaft aufbewahrt.
Da Geburtsurkunden fortgeführt werden, enthalten sie auch weitere Informationen, z.B. über Adoption, Eheschließung, leibliche oder adoptierte Kinder und auch Tod. Fragen Sie hierzu deutlich nach möglichen Randeinträgen zur Geburtsurkunde. Wenden Sie sich immer direkt an die Standesämter. Für die Ausstellung von Urkunden können bei den Standesämtern Gebühren anfallen. Kostenpflichtige Anbieter sind dennoch weder nötig noch günstiger.
Verwenden Sie für die Anfrage gerne unsere Vorlage.
Adoptionsvermittlungsstellen
Ein häufiger Grund für die Suche nach Angehörigen ist die eigene Adoption oder die Adoption von leiblichen Geschwistern. Durch Adoption wird ein Eltern-Kind-Verhältnis unabhängig von den biologischen Verwandtschaftsverhältnissen hergestellt. Bei der Stiefkindadoption nimmt der neue Ehepartner – in der Regel war das damals der Mann – das leibliche Kind der neuen Ehefrau an.
Inkognito-Adoption bedeutet, dass die Herkunftsfamilie des Kindes die neuen Eltern nicht kennt und weder Einsicht in die Adoptionvermittlungsakte, noch in den Geburteneintrag nehmen darf. Dies dürfen nur die Adoptiveltern und das Kind selber (ab dem 16. Lebensjahr, siehe § 63 - Personenstandsgesetz (PStG)). Die Kinder haben das Recht, über die Einsicht in diese Dokumente Informationen und Hintergründe zu ihrer Herkunft zu erfahren. Aus der Geburtsurkunde geht der Name der leiblichen Mutter, wenn bekannt, auch des Vaters, hervor. Diesen dürfen die Adoptierten nur dann nicht erfahren, wenn persönliche Belange der leiblichen Eltern dem entgegenstehen und überwiegen. Adoptionsakten werden bis 100 Jahre nach der Geburt aufbewahrt.
Wenn es möglich ist, den Namen der gesuchten Person, z.B. der leiblichen Mutter, zu ermitteln, ist eine weitere Recherche möglich. Dafür folgen Sie bitten den Hinweisen im Kapitel „Suche nach Angehörigen.“ Für die Suche nach der zuständigen Adoptionsvermittlungsstelle und nach Adoptionsakten siehe Kapitel Personenbezogene Akten 2: Die Jugendämter.
Adoptionsvermittlungsstellen begleiten Betroffene bei der Suche nach leiblichen Geschwistern und unterstützen bei der Kontaktaufnahme.
Downloads
- Rechercheratgeber Heimerziehung_Suche nach Einrichtungen. Rechercheratgeber_Einrichtungssuche_FINAL.pdf (pdf/1.04 MB) >>>
- Rechercheratgeber Heimerziehung_Vorlage Anschreiben gesammelt. Vorlagen_Anschreiben.pdf (pdf/173.58 kB) >>>
Verschickungskinder – Missbrauch und Gewalt bei Kinderkuren
03.07.2023 ∙ ARD History ∙ Das Erste
UT
ARD History | Geschichte im Ersten
Nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1990er wurden rund 15 Millionen Kinder in Kuren geschickt - die sogenannte "Verschickung", eine meist sechswöchige Heimunterbringung. Der Zweck: die Kinder sollten aufgepäppelt werden. Hochphase sind die 50er- und 60er-Jahre. Schätzungsweise jedes fünfte Kind kam damals in Kur. Dazu gehörte auch der Vater der Autorin. Die Journalistin Lena Gilhaus begann - ausgehend vom Fall ihres Vaters - zu recherchieren. Sie veröffentlichte erste Recherchen über Kinderkuren, woraufhin sich Menschen von überall melden und von ihren eigenen, zum Teil furchtbaren Erlebnissen berichten.
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Bild: WDR / null
Video verfügbar:
bis 03.07.2024 ∙ 23:00 Uhr
https://www.ardmediathek.de/
Verschickungskinder - Leid statt Erholung in der Kinderkur
27.06.2023 ∙ Planet Wissen ∙ SWR
UT
Planet Wissen
Millionen Kinder wurden nach dem Krieg zum Aufpäppeln in Kur geschickt. Viele von ihnen wurden dort gequält und misshandelt - und leiden noch heute als Erwachsene. Sie haben Angst-, Schlaf- und Essstörungen, kämpfen mit Depressionen. Lange war über das Leid der Verschickungskinder wenig bekannt. Jetzt kommt allmählich Licht in dieses dunkle Kapitel deutscher Geschichte.
Bild: SWR Freeze
Video verfügbar:
bis 07.10.2027 ∙ 20:00 Uhr
https://www.ardmediathek.de/
Verschickungskinder: Petra erzählt von schrecklichen Erlebnissen
05.01.2020 ∙ SWR Heimat ∙ SWR
SWR Heimat Logo
Bis in die 80er Jahre wurden Kinder auf Kur geschickt, in so genannte "Verschickungsheime". Doch oft wurden die Kinder systematisch gequält. Petra aus Bruchsal war eines von ihnen.
Bild: SWR
Video verfügbar:
bis 03.01.2025 ∙ 14:32 Uhr
https://www.ardmediathek.de/
Isolationshaft und Zwangsernährung für Heimkinder
Härte, Strafe, Disziplinierung – das waren lange die deutschen Synonyme für Erziehung. Besonders gewaltsam fiel dieses Regiment in Kinderheimen aus, auch in denen des Landeswohlfahrtsverbands Hessen. Wissenschaftler haben die Akten nun im Auftrag des Verbands aufgearbeitet.
Von Anke Petermann | 23.05.2013
Schon die Einweisung ins Heim war Entrechtung und Strafe – für all das, was in den 50er-Jahren als aufsässig und widerspenstig galt. Elke Bockhorst, Sprecherin des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen.
„Was ich ganz besonders krass finde ist, dass es mehrere Beispiele gibt von Mädchen, die sexuell belästigt wurden und sich dann ans Jugendamt gewandt haben, und bestraft hat man nicht die Täter, sondern man hat sie dann ins Heim gesperrt, so nach dem Motto, die müssen ja schon irgendwie was provoziert haben, wenn so etwas passiert.“
Viele weggesperrte Kinder hätten besonders viel Zuwendung gebraucht, weil sie einen oder beide Elternteile verloren hatten oder aus sozial benachteiligten Familien stammten. In den Heimen des Landeswohlfahrtsverbandes gab es stattdessen besonders harte Strafen, Schläge und auch psychische Gewalt. Renate kam in das geschlossene Mädchenheim Fuldatal im nordhessischen Guxhagen, nachdem ihre Mutter gestorben war. Mit einem Schlag verlor die 14-jährige Freiheit und Selbstbestimmung, wurde wie eine Gefangene behandelt. Sie verletzte sich selbst, um entlassen zu werden, vergeblich:
„In dieser Situation ist man total hilflos, man ist eingesperrt, man kann nichts machen. Und wenn man sich dagegen aufgebäumt hätte, wäre man nur wieder in diese Besinnungsstube eingesperrt worden.“
Besinnungsstube? Andreas Jürgens, Vize-Chef des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, redet Klartext:
„Das war im Grunde genommen nichts anderes als eine Isolationshaft, ein Karzer, ein Kerker, in dem zur Strafe über Tage, teilweise über Wochen, die Mädchen eingesperrt worden sind, wenn sie irgendwas gemacht hatten was man nicht durfte. Und man durfte fast gar nichts.“
Gewalt als durchgängiges Erziehungsmittel, präsent nicht nur in Ausnahmesituationen wie Kerkerhaft, sondern in jeder Alltagsroutine: Essen unter Zwang, auch bei Erbrechen. Waschen unter Aufsicht und ohne Intimsphäre. Einschlafen in Angst, denn bei Bettnässen drohte Prügel. Heimmitarbeiter gleich Täter? „Sie waren das Gesicht eines damals gesellschaftlich gewollten rigiden Systems“, meint Andreas Jürgens. In Tondokumenten der Ausstellung kommt eine Anhängerin der Studentenbewegung zu Wort, die sich Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre für die Heimkinder einsetzte:
„Das Schlimme war damals ja auch, dass die ganze Bevölkerung die gleichen Haltungen hatte wie die Akteure, nämlich dass diese „schwer erziehbaren“ Jungen oder Mädchen – was war „schwer erziehbar“, ne – dass man die eben wegstecken muss und dass man die bestrafen muss, und dass man die disziplinieren muss und dass nur Härte greift und dass man „denen“ keinen Freiraum geben darf.“
Die Rolle der Studentenbewegung, der außerparlamentarischen Opposition, kurz APO, thematisiert die Ausstellung auch deshalb, so Elke Bockhorst,
„weil ohne die APO damals und ohne die Studentenbewegung die Reformen in den 70er-Jahren gar nicht umgesetzt worden wären. Das ist schon ganz deutlich auf den öffentlichen Druck dieser Bewegung hin passiert. Es gab auch Druck von Wissenschaftlern, es gab damals ja zum Beispiel eine wissenschaftliche Untersuchung im Mädchenheim Fuldatal, da kam ein Mitarbeiter von der Uni Marburg, der versucht hat, über Legasthenie- Forschung diese Mädchen zu befragen – das war ein reines Mädchenheim – und dabei hat er festgestellt, dass diese Mädchen dort keinerlei Bildung und berufliche Förderung erhielten, und das hielt er für einen ziemlichen Skandal und machte das damals öffentlich. Also, der Druck kam einerseits von Wissenschaftlern und sehr, sehr stark auch von der APO und der Studentenbewegung.“
Die Opfer der Heimerziehung blieben oft ihr Leben lang beruflich und psychisch beeinträchtigt. Zwar empfänden viele die offizielle Entschuldigung des Landeswohlfahrtsverbandes und die wissenschaftliche Aufarbeitung als Genugtuung, meint Elke Bockhorst, sie forderten aber auch:
„Ihr müsst doch mehr machen, und wir brauchen auch mehr als diese Art von Entschädigung, die da am Runden Tisch in Berlin beschlossen wurde.“
https://www.deutschlandfunk.de/
Demütigung nach Plan
Jugendwerkhöfe hießen in der DDR jene Heime, in denen sogenannte Schwererziehbare untergebracht wurden. Menschenverachtende Erziehungsmethoden gehörten dort zum Alltag: militärischer Drill, Demütigungen bis hin zur Vergewaltigung. Ehemalige Betroffene sind oft noch nach Jahrzehnten neurotisiert.
Von Alexa Hennings | 06.08.2012
„Das große Tor der Schleuse öffnete sich. Da stand ich nun. Hohe Mauern und Stacheldraht um mich herum. Ein Gefängnis für Kinder war dies hier. Hier war Flucht unmöglich, schoss es mir durch den Kopf.“
Heidemarie Puls war 15, als sie in den geschlossenen Jugendwerkhof nach Torgau kam. Und sie war 50, als sie in dem Buch „Schattenkinder hinter Torgauer Mauern“ alles aufschrieb.
„Nun stand ich auf dem Flur und nirgendwo eine Toilette. Ein Erzieher schrie mich an und forderte mich auf, mich an eine Wand zu stellen. Das tat ich. „Umdrehen. Jugendliche Burkart!“ „Aber ich muss dringend auf die Toilette!“, war meine Antwort. Noch bevor ich ein weiteres Wort verlieren konnte, spürte ich Schläge mit einem Stock auf meinem Rücken. Der Mann schlug so heftig zu, dass ich zu Boden sank. Ich weiß nicht, wie oft er zuschlug. Meine Hose war inzwischen nass.“
Das Mädchen aus dem mecklenburgischen Neukalen wurde, seit sie elf war, von ihrem alkoholsüchtigen Stiefvater missbraucht. Ihre Mutter schwieg dazu. Heidemarie versuchte, sich das Leben zu nehmen. Sie lief von zuhause weg, versteckte sich in Gartenhäusern, schwänzte die Schule. Das war ein „auffälliges Verhalten“. Man brachte sie in ein Kinderheim.
„Unter den Kindern gab es dann oftmals ganz arge Sachen. Und ich hab dann – immer wenn ich Gefahr für mich sah, bin ich ausgerissen. Und dieses Ausreißen, das hat mich von einer Einrichtung in die andere getrieben.“
Immer wieder lief sie weg. Man brachte sie in stärker gesicherte Spezialkinderheime, wieder lief sie irgendwann weg.
„Diese Hierarchie unter den Kindern, das war das Aller-, Allerschlimmste. Und das war natürlich so gewollt. Die Erzieher haben dann schon gewusst: Einfach nur einen Satz sagen, und dann regeln das die Kinder unter sich. Und wenn es am Abend kein Abendbrot gab, dann wurde gesagt: Ihr wisst ja, wem ihr das zu verdanken habt. Und dann wurde unter den Kindern – das war dann oft ganz, ganz böse. Hunger macht tatsächlich böse, das habe ich an so manchem Morgen erlebt, wenn ich mit einer aufgeplatzten Lippe oder einem blauen Auge aufgestanden bin. Und dann der Erzieher noch demütigend gefragt hat: Heidemarie, bist du gefallen?“
Die Odyssee durch die Heime endete für Heidemarie im geschlossenen Jugendwerkhof Torgau.
„Nun wurde ich in eine Arrestzelle eingeschlossen. Ich fühlte mich elendig und dreckig und mein Körper schmerzte und brannte. Endlich öffnete sich die Tür der Aufnahmezelle. Eine Erzieherin sah mich an: „Meldung!“ „Was für eine Meldung?“ „Jugendliche Burkart, ich erwarte eine Meldung, wenn sich die Tür öffnet. Diese sollte schon gelernt worden sein! Also?“ „Ich weiß nicht, was ich lernen sollte. Nachdem mich ein Erzieher mit dem Stock schlug, nur weil ich nach einer Toilette fragte, wurde ich hier eingeschlossen.“ Nun schrie sie noch heftiger: „Hier wird nicht gefragt, hier hast du zu warten, bis Anweisungen von den Erziehern kommen. Du bist hier, um zu lernen, Anweisungen zu befolgen, dich ein- und unterzuordnen und du hast keine Fragen zu stellen!“ Unaufhaltsam rannen mir die Tränen. Was passierte hier?“
Keine Schule, Akkordarbeit nach Norm, nach der Arbeit in schweren Arbeitssachen militärischer Sport auf dem Hof bis zum Zusammenbrechen, Demütigungen durch Erzieher und höherrangige jugendliche Insassen, Vergewaltigungen durch einen Erzieher und immer wieder härteste Strafen für geringste „Vergehen“. Die schlimmste Strafe: Tagelange Einzelhaft im sogenannten Fuchsbau, einer fensterlosen Zelle ohne Kübel für die Notdurft.
„In Torgau brach man die Persönlichkeit. Als ich in diesem Fuchsbau war, ich hörte Stimmen und all so was. Dann bin ich weggetreten, da habe ich, denke ich, eine Schwelle vom Leben in den Tod überschritten. Und da ist mein Leben drin geblieben. Ich war dann ein anderer Mensch. Ich habe funktioniert. Die Gesellschaft konnte mich dann so aufbauen, wie sie mich haben wollte. Und das ist gelungen. Und nicht nur bei mir, das ist bei tausenden anderen auch gelungen.“
430.000 Kinder und Jugendliche in der DDR verbrachten Teile ihrer Kindheit in Kinderheimen, etwas mehr als ein Viertel davon waren Insassen eines Spezialkinderheims oder eines Jugendwerkhofs – Einrichtungen, die es für die sogenannten „Schwererziehbaren“ gab. Das Thema ist bis heute im Osten Deutschlands ein sehr emotionales, wie man nicht nur den Leserbriefseiten der Schweriner Volkszeitung entnehmen kann.
„Als elternlose Flüchtlingskinder fanden wir in Kinderheimen in Mecklenburg eine neue Heimstatt, die wir als glücklich bezeichnen möchten. Hochachtung vor diesen Heimen und den Erziehern. Werkhöfe waren notwendig, um kriminell gewordene ältere Kinder auf den Lebensweg zu bringen. Wo liegt hier die „Schuld“ der DDR-Behörden oder auch der Erzieher?“
Dieter und Gerd Klautke
„Kinder und Jugendliche, die in der DDR kriminell waren, kamen nicht in den Jugendwerkhof und in Spezialkinderheime. Sondern in Jugendstrafvollzüge, es gab Jugendhäuser. Und diese wurden auch verurteilt über ein Gericht. In einem Jugendwerkhof gab es keine kriminellen Jugendlichen. In einen Jugendwerkhof kamen Kinder, die auffällig waren, die einfach durch ihr Anderssein auffällig wurden. Man sah diese Auffälligkeiten eines Kindes, die Wirkungen, aber man hinterfragte nicht die Ursachen. Das System der Jugendhilfe der DDR hat da versagt. Und dieses Stigma, was in der Bevölkerung auch heute noch besteht gegenüber Kindern und Jugendlichen, die in Spezialkinderheime und Jugendwerkhöfe verbracht worden sind, das ist natürlich ein Prozess, der gesellschaftlich aufgearbeitet werden muss. Und das kann er nur, wenn viel drüber geredet wird.“
Heidemarie Puls hofft, dass spätestens jetzt viel über das Thema Heimkinder geredet wird. Denn seit dem 1. Juli können ostdeutsche Heimkinder einen Antrag auf Entschädigung für erlittenes Unrecht stellen. Der Fonds wird von Bund und Ländern mit 40 Millionen Euro ausgestattet. Die Aufarbeitung der Vergangenheit und der Missbrauchsvorwürfe in westdeutschen Kinderheimen hatte zunächst nur zu einem Entschädigungsfonds für diese Betroffenen geführt. Heidemarie Puls war als Vertreterin Mecklenburg-Vorpommerns an der Ausarbeitung des Fonds für die ostdeutschen Heimkinder beteiligt.
„Das war Schwerstarbeit, die seit 28. November geleistet wurde. Und man darf dabei nicht vergessen, dass wir uns immer wieder, mit jeder Sitzung in Berlin, sind wir auch zurück in unsere eigene Vergangenheit gekommen. Und ich bin auch an meine Grenzen gestoßen und ich bin froh, dass wir jetzt die Anlaufstellen haben und ich ein bisschen zur Ruhe komme und mich wieder um meine Familie, meine Kinder und Enkelkinder kümmern kann. Ich denke, dass wir mit dem Fonds – nach 22 Jahren muss man sagen – was erreicht haben, das auch ein Stückchen Anerkennung durch die Gesellschaft des erlittenen Leides einzelner Kinder nach außen trägt. Und dass sich auch die Bevölkerung Gedanken macht, auf den Weg macht, sich mit dem wirklichen Geschehen auseinanderzusetzen. Denn dieses Stigma, was auf Heimkindern lastet, das ist das, was mit 40 Millionen auch nicht wegzutreiben ist. Das muss von der Bevölkerung kommen.“
Noch eine Lesermeinung aus der Schweriner Volkszeitung
„Es ist das Übliche: Ein wegen Diebstahl und Körperverletzung polizeibekannter Jugendlicher tötet in voller Absicht einen Menschen und wird vom Gesetz behütet. Zu DDR-Zeiten wäre der Junge spätestens nach der Körperverletzung in einem Jugendwerkhof gelandet und hätte dort vielleicht erfahren, dass ein Menschenleben wertvoll ist. Aber ich vergaß: Nach dem heutigen Bild gab es ja in Jugendwerkhöfen und DDR-Kinderheimen ja ausschließlich politische Verfolgte, denen dort Schlimmes zugefügt wurde und die jetzt dafür eine Entschädigung erhalten.“
Hei Kesen
Nicht nur einige Zeitungsleser denken so, sondern durchaus auch Richter und Staatsanwälte. Schon länger haben ehemalige Heimkinder die Möglichkeit einer Rehabilitierung. Bei Heidemarie Puls wurde sie anerkannt, bei mehr als 90 Prozent der Antragsteller nicht. Der häufigste Grund: Anhand der Akten der DDR-Jugendämter wird eine Rehabilitierung oft verweigert, weil die dort vermerkten Gründe für eine Heimeinweisung noch heute „nachvollziehbar“ seien: Sogenannte Herumtreiberei, Schulbummelei, Rowdytum. Die Frage ist jedoch nicht: Was haben die Kinder und Jugendlichen getan, sondern: Wie wurden sie behandelt? Mancher Richter möchte sich diese Frage nicht stellen. Vielleicht, weil die heutige Gesellschaft es oft an Härte fehlen lässt mit auffälligen Jugendlichen?
„Umhertreiberei – dieses Wort umhergetrieben, sie hat sich umhergetrieben. Das ist etwas für ganz viele Frauen heute, was ganz schwer wiegt, wofür sie sich schämen. Und ich für mich habe dieses Wort genau wie die Schwer-Erziehbarkeit auseinander gelegt. Ich bin auch umhergetrieben. Warum bin ich umhergetrieben? Weil ich mich schützen musste, darum bin ich umhergetrieben. Es wird aber in der Bevölkerung dann so definiert: Es war eine Rumtreiberin, und das wird oft in Verbindung gebracht mit Prostitution und all solchen Sachen. Dass aber Kinder sich geschützt haben und schützen mussten und umhergetrieben sind, das muss man den Menschen sagen.“
Auch Burkhard Bley will das den Menschen sagen. Im Schweriner Büro der Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen organisiert er Fortbildungen zum Thema „Heime und Jugendwerkhöfe in der DDR“. Schon mehr als 100 Richter und Staatsanwälte, Mitarbeiter der Stasi-Unterlagenbehörden,
Lehrer, Auszubildende in Erziehungsberufen und Soziologen haben bisher daran teilgenommen. Und Burkhard Bley organisierte eine Konferenz, auf der sich Ärzte, Therapeuten und Historiker mit Betroffenen trafen. Seit dem 1. Juli leitet er die Beratungsstelle, an die sich ehemalige Heimkinder wenden können, wenn sie den Fonds in Anspruch nehmen möchten. Der Fonds bietet unbürokratische Hilfe: anders als beim Verfahren der Rehabilitierung, bei dem der Geschädigte Beweise für erlittenes Unrecht erbringen muss – was durch die Vernichtung vieler Unterlagen oft sehr schwierig ist – anders als bei der Rehabilitierung also sind beim Fonds für Heimkinder Nachweise nicht erforderlich. Sorge, dass jemand das ausnutzen könnte, hat Burkard Bley dennoch nicht.
„Ich habe schon viele Gespräche geführt, mit mehreren hundert Betroffenen, die in Heimen waren: Das kann man sich nicht alles ausdenken, was die Personen da erzählen, Und die berichten übereinstimmend von bestimmten Erziehungsmethoden, sie berichten von bestimmten Heimen, wo man das schon mal gehört hat. Das ist schon nachvollziehbar. Das kann man nachvollziehen, wenn jemand nicht glaubwürdig berichtet, dann würde das auch auffallen. Diese Form der Glaubhaftmachung ist, glaube ich, ein guter Weg, den man gewählt hat. Weil mit Unterlagen wird man in der Regel nicht weitermachen, weil in den Unterlagen steht ja nicht drin, was mit den Leuten gemacht worden ist. Das sind Akten aus Sicht der Erzieher, die schreiben natürlich nicht rein: Heute wurde der geprügelt. Selbst wenn es auftaucht, das sehen wir in den Studien von Christian Sachse, wird das immer abgebügelt, das ist sogar bis hoch ins Volksbildungsministerium gegangen, aber man hat das nicht weiter verfolgt, man wollte nicht dran rühren. Daran sieht man, dass es von ganz oben auch abgesegnet war.“
Christian Sachse ist ein ehemaliger Pfarrer aus Torgau, der die Studie „Heimerziehung in der DDR“ erstellte und das Buch „Der letzte Schliff“ veröffentlichte.
„Herr Sachse, sogenannter Heimexperte, befindet sich im Krieg mit den ehemaligen Erziehern der DDR, diese gilt es zu vernichten. Geht es Herrn Sachse & Co darum, die verantwortungsvolle Arbeit der meisten Erzieher in den Dreck zu ziehen, ihnen den moralischen und seelischen Krieg zu erklären? Personen wie Christian Sachse sind gar nicht in der Lage, objektiv die Heimgeschichte der DDR zu erforschen und positive Effekte der Heimerziehung zu erfahren.“
Karl-Heinz Paap, Diplompädagoge, Schwerin
Die Betroffenen haben zwei Gesprächstermine bei Burkard Bley und seiner Mitarbeiterin. In den Gesprächen geht es um die Geschichte der Heimkindzeit und auch um die Lebensgeschichte, denn oft wurde der Aufenthalt besonders in Spezialkinderheimen und Jugendwerkhöfen prägend für die ganze Biografie. Bei vielen Kindern war allein die non-konforme Haltung ihrer Eltern zur DDR Grund für eine Einweisung in ein Heim. Während Kinder in normalen Heimen die normalen Schulen besuchen konnten, waren Kinder wie Heidemarie Puls in Spezialheimen benachteiligt: Für sie war in der 7.Klasse die Schule beendet, ab diesem Zeitpunkt musste sie nur noch arbeiten im Heim. Deshalb konnte sie später nur sogenannte Teilfacharbeiterabschlüsse machen, verdiente sehr wenig Geld und wird einmal sehr wenig Rente bekommen.
„Viele Betroffene sind durch die entgangenen Bildungschancen im Berufsleben nicht so angekommen wie es wünschenswert gewesen wäre. Die meisten leben tatsächlich von Hartz IV beziehungsweise sind Erwerbsunfähigkeitsrentner. Das Entscheidende ist immer, was ist dem Einzelnen widerfahren, welches Leid, welches Unrecht, was resultiert an Schäden daraus. Und was kann es geben, die ganze Palette, die dann zur Milderung beiträgt.“
Das kann eine spezielle Therapie sein, die von der Krankenkasse nicht getragen wird, eine Ausgleichszahlung für entgangene Rentenbeiträge, wenn im Jugendwerkhof gearbeitet wurde und sich das nicht in der Rente niederschlägt, oder auch dringend benötigte Haushaltsgegenstände, wie eine neue Waschmaschine, die sich ein Geringverdiener nicht leisten kann.
„Es gibt ja sicherlich auch Berichte von Heimkindern, die sagen: Im Heim ist alles sehr gut gelaufen. Das wird es auch gegeben haben. Aber es gibt auch genügend, die eben anderes berichten. Und das ist auch, glaube ich, das Entscheidende, was man sagen muss: Es ist egal, was die angestellt haben, ob es jetzt irgendwelche jugendlichen Delikte waren oder Schulbummelei. Es ist trotzdem kein Freibrief dafür, Kinder und Jugendliche mit solchen Erziehungsmethoden zu behandeln. Wo es wirklich darum geht, Persönlichkeiten zu brechen, sie an den Rand der physischen Erschöpfung zu führen, sie zu demütigen. Das sind Erziehungsmethoden, die sind ganz klar menschenverachtend. Und es gibt keinen Grund, wirklich keinen vernünftigen Grund, Kinder und Jugendliche so zu behandeln. Ganz egal, was sie angestellt haben. Wenn sie denn überhaupt etwas angestellt haben.“
„Ich musste zum Direktor. „Bist du gefallen?“, fragte er mich, als er einen Blick auf mein blau unterlaufenes Auge geworfen hatte. „Nein, ich bin nicht gefallen. Ich habe einen Schlag mit dem schwarzen Stock bekommen.“ Nun wurde er laut. „Mit dem Stock?“ Ich bestätigte es. Daraufhin packte er mein Ohr und dreht es herum. „Jugendliche Burkart, hier gibt es keinen Stock, keinen schwarzen Stock und hier wird auch niemand geschlagen!“ Bevor ich auch nur irgendetwas sagen konnte, dreht er noch einmal an meinem Ohr und fragte mehrfach, ob ich es verstehe. „Ja, ja!“
„Mit der Entlassung eine Verzichtserklärung zu unterschreiben, über das Erlebte zu schweigen – das war für mich etwas, was diesen ganzen Sack zugemacht hat. Bis dann mein Körper rebelliert hat und ich im Alter von 40 Jahren zusammengebrochen bin. Gar nicht wusste, was ist mit mir los. Es gab Jahre, da dachte ich überhaupt nicht an das Heim. Es war einfach nicht da. Ich habe mich auf das Leben im Heute eingelassen. Und habe versucht, meine Kinder als Menschen heranzuziehen, die mit beiden Füßen im Leben stehen, das war mir wichtig. Und das ist mir auch ganz gut gelungen. Aber als die Kinder dann aus dem Haus gingen, da war dann diese Leere da. Und ich denke, diese Leere, dieses zur Ruhe kommen hat in mir diesen Aufbruch in die Vergangenheit herbeigeführt.“
Heidemarie Puls machte mehrere stationäre Psychotherapien. Doch auch dort konnte sie lange nicht über das Geschehene sprechen. Bis ihr irgendwann das Malen in der Ergotherapie half, später das Schreiben.
„Das kam nicht so einfach raus. Das musste erarbeitet werden, diese ganze Therapie. Als man mir dann sagte: Wenn sie ihr Päckchen nicht auspacken, dann können wir langfristig nicht helfen. Da wusste ich, dass ich noch mal durch die Hölle gehen musste. Ich musste reden, ich musste mich meiner Vergangenheit stellen. Ich musste erst mal erkennen, dass ich Kind war, dass ich kindlich gehandelt habe. Dass die Erwachsenen es waren, die für mich verantwortlich waren und ich nicht für irgendwelche Dinge verantwortlich gemacht werden konnte. Nämlich dass mein Stiefvater mich sexuell missbraucht hat und meine Mutter nicht die Verantwortung übernehmen konnte. Meine Mutter wäre diejenige gewesen, die hätte was unternehmen müssen. Alle diese Dinge, dieses Schuld auferlegen. Eigentlich war das mit der Schuld das Schwerste, was ich für mich auf die Reihe bekommen musste. Man bummelt nicht die Schule, man bricht nicht in Gartenhäuser ein und schläft da, man nimmt auch keine Jacke aus dem Gartenhaus mit, weil man gefroren hat. Und man isst auch nicht die Lebensmittel, die einem nicht gehören. Das sind alles Dinge gewesen, die ich als Schuld lange, lange Jahre mitgetragen habe. Und dieses jetzt zu erkennen, dass es einfach zum Überleben diente, dass es eine ganz normale Reaktion war – das war schwer für mich.“
Auf der Internetseite von Heidemarie Puls melden sich seit der Veröffentlichung ihres Buches viele Betroffene, sie betreut sie per E-Mail oder am Telefon. Manchmal geht das monatelang. Die meisten, so weiß sie, wollen anonym bleiben. Sie rät ihnen, doch allen Mut zusammenzunehmen und sich bei der neuen Beratungsstelle in Schwerin zu melden.
„Ich bekam gerade gestern eine wunderbare Mail. Da schrieb mir eine junge Frau, dass sie sich bedankt dafür, dass sie sich jetzt nicht mehr schämen muss, ein Heimkind gewesen zu sein. Und diese Frau wird natürlich auch den Weg in die Anlaufstelle gehen.“
Im Juni hat sich zudem der Verein „Heimkinder Ost – Mecklenburg Vorpommern e.V.“ gegründet. Mitglieder, die über ihre Erlebnisse reden können, wollen als Zeitzeugen an Schulen auftreten und Betroffenen bei der Rehabilitierung helfen. So unterstützen ehemalige Heimkinder Burkard Bley in seiner Schweriner Beratungsstelle.
„Für ganz viele, mit denen ich gesprochen habe, ist dieser Aspekt ganz wichtig, dass man ihnen hier Glaubwürdigkeit zugesteht, dass sie Leid erlitten haben und dass es auch nicht normal ist, was ihnen passiert ist. Dass sie nicht selber dran schuld sind. Nicht dass sie die Kriminellen sind, sondern sie sind in ein System geraten, das sie kriminalisiert hat und ihnen mit schwarzer Pädagogik bleibende Schäden zugefügt hat. Und das ist auch ein wichtiger Aspekt bei dem Fonds, dass diejenigen eben über diese Biografiearbeit ihren Frieden mit dem Ganzen machen können. Es zumindest einen Anstoß dafür gibt, dass sie ihren Frieden damit finden.“
Wiedergutmachung kann es nicht geben. Was ist eine Waschmaschine gegen sechs Jahre Spezialkinderheim in der DDR? Vielleicht ist es die größte Wiedergutmachung für die Heimkinder, wenn alle tiefer darüber nachdenken, was das in der DDR bedeuten konnte: ein Heimkind sein.
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Heimerziehung in der DDR
Massive Gewalt und Erniedrigung erlebten Kinder und Jugendliche in Heimen in der DDR. Besonders gefürchtet war der „Jugendwerkhof“ Torgau. Ein 40-Millionen-Euro-Fonds soll die Betroffenen für das begangene Unrecht entschädigen. Für viele der ehemaligen Heimkinder ist das aber nur ein winziger Schritt zur Anerkennung ihres Leids.
Von Isabel Fannrich | 26.04.2012
In Kinderheimen hinter Mauer und Stacheldraht gehörten körperliche Übergriffe zur Tagesordnung. Im Bild die Berliner Mauer um 1970. (Deutschlandradio)
„So hat mich meine Mutter dann persönlich ins Spezialkinderheim Pretzsch gebracht an der Elbe, hat mich dort mit dem Koffer abgestellt, die Erzieherin hat die Tür aufgemacht, und dann hat sie sich umgedreht und ist gegangen. Sie hat nicht tschüss gesagt, nichts, gar nichts. Und bin dann dort von der Erzieherin auch gleich der Gruppe vorgestellt worden: ‚Das ist unser Neuzugang, Kerstin Kuzia. Sie ist Bettnässerin.“
Kerstin Kuzia war damals 14, ein ungeliebtes Kind, von der Mutter nie in den Arm genommen. Mit ihrer Verhaltensauffälligkeit landete sie erst in der Kinderpsychiatrie, später in den Spezialheimen der DDR für
Schwererziehbare. Ein jungenhaftes Mädchen, das die Schwester und Schulkameraden jahrelang wegen Bettnässens hänselten und schließlich erpressten. Sie sollte Schokolade klauen und wurde dabei erwischt.
Für Kerstin Kuzia folgten fünf Jahre staatlicher Aufsicht. Als sie im Spezialkinderheim Pretzsch Wache für ihre Zimmernachbarinnen schob, die nachts ins Dorf ausbüchsten, wurde sie in die Durchgangslager Halle und Alt-Stralau verlegt. Von dort kam sie in den Jugendwerkhof „Ehre der Arbeit Hummelshain“. Dann wurde sie mit 17 in Torgau eingeliefert, für sie eine Endstation:
„Wir kannten nur das Wort Torgau und das war mit riesen Angst und Panik versetzt. Das hatte damit zu tun, dass jeder, der aus Torgau entlassen worden ist, eine Stillschweigungs-Erklärung unterschreiben musste. Wenn man jemals einer dritten Person gegenüber erzählt, was Torgau ist, was in Torgau passiert ist, überhaupt das Wort Torgau in den Mund nimmt, dass man dann bis zum 21. Lebensjahr jederzeit zurückgeholt werden kann.“
Der geschlossene Jugendwerkhof Torgau steht für die Verletzung von Menschenrechten in den Kinder- und Jugendheimen der DDR schlechthin. Für Karsten Laudien von der Evangelischen Hochschule Berlin ist Torgau deshalb ein symbolischer Begriff:
„In anderen Jugendwerkhöfen sind aber ähnliche Dinge passiert, wenn eben auch nicht wahrscheinlich mit dem systematischen Zugriff, wie das in Torgau passierte. Aber dass solche Dinge vorkamen, dass Sportleistungen abverlangt wurden, die bis zur täglichen Erschöpfung führten, dass geschlagen wurde, dass isoliert wurde, es gab in diesen Einrichtungen immer Isolierzellen – das ist flächendeckend nachweisbar, wenn es auch vielleicht nicht mit der Systematik auftrat, wie das in Torgau zu beobachten war.“
Der Ende März veröffentlichte Bericht über die Heimerziehung in der DDR umreißt die große Bandbreite von Erziehungsanstalten. Knapp eine halbe Million Kinder und Jugendliche haben in den 40 Jahren DDR das überwiegend staatliche Heimsystem durchlaufen. Dieses war zweigeteilt: Die sogenannten Normalheime beherbergten mit 80 Prozent den Großteil der Betroffenen: Jene, die keine Eltern hatten, die wegen Gefährdung aus den Familien heraus genommen werden mussten, aber in den Augen der Gesellschaft keine großen Schwierigkeiten bereiteten.
Ungefähr 135.000 Kinder und Jugendliche aber kamen in den „Spezialheimen“ für sogenannte Schwererziehbare unter. Sie wurden wegen Schul- und Arbeitsbummelei, wie es damals hieß, oder wegen Verweigerung gegenüber dem Kollektiv in ein Spezialkinderheim oder einen Jugendwerkhof eingewiesen. Der Berliner Politikwissenschaftler und Theologe Christian Sachse hat eine der Expertisen für den Heimbericht verfasst:
„Das konnten kleinere Auffälligkeiten sein, das konnten Unerzogenheiten sein, es konnte sein Kinder und Jugendliche, die in der Rebellionphase zwischen 14 und 16 Jahren den Lehrer als Autorität nicht mehr dulden wollten. Und das Interessante ist eigentlich, dass es ne Reihe von Kindern gab, immer, die die gleichen Phänomene aufwiesen und die nicht in diesen Fokus geraten sind. Da ist also ein hoher Anteil an Willkürlichkeit dabei.“
Die sehr bunte Mischung von Erziehungsschwierigkeiten – auch von politisch abweichendem Verhalten der Eltern – habe die gesamte Geschichte der Spezialheime geprägt, fasst Sachse zusammen. Viele der Betroffenen würden sich heute noch fragen, warum sie damals in ein solches Heim eingewiesen worden seien.
Die Zeit im Heim empfinden die meisten ehemaligen Heimkinder heute noch als Stigma. Sie kämpfen gegen das Vorurteil, sie seien aufgrund einer Straftat in ein Spezialheim eingewiesen worden. Sachse:
„Kriminelle saßen auch in der DDR in Jugendhaft, dafür gab es extra Gefängnisse, Jugendgefängnisse. Und sie waren eben keine Kriminellen, höchstens Kleinkriminalität, ein Moped geklaut oder so, paar Scheiben eingeschmissen, das hat es schon auch gegeben. Und sie sozusagen von diesem Ruf zu befreien, Kriminelle zu sein. Das ist bei den Spezialheimen durchgängig so, dass die Kinder und Jugendlichen sich damals schon geschämt haben, dass sie dazugehören. Und später gegenüber ihrer eigenen Familie nicht mal über diese Sachen geredet haben.“
Noch müssen die Gründe für eine Einweisung genauer erforscht werden. Gegen diese konnten die Eltern gerichtlich nicht vorgehen. Denn eine Kommission aus Laien entschied per Verwaltungsakt, ob ein junger Mensch in staatliche Obhut kam. Karsten Laudien, Mitverfasser des Heimberichts:
„Die Situation der Heimkinder konnte innerhalb der DDR selbst nicht verbessert werden. Im Westen war spätestens ab 70, Anfang der 70er Jahre gab's ein Umdenken, ein Umschwenken: Man hat öffentlich gemerkt, was dort in den Heimen vorging und hat versucht, das abzuschaffen.“
Was vor allem die Spezialheime der DDR von denen der Bundesrepublik unterschied, war das Ziel, die Kinder zu sozialistischen Menschen umzuerziehen.
„Und das hört sich erstmal harmlos an, das ist aber ein ziemlich brutaler Versuch, über die Psyche des Kindes einen Manipulationsversuch zu machen, die das Kind erstmal in sich selbst erschüttern, die es isolieren, wo man die Hilflosigkeit steigert, um dann auf ein so zerrüttetes psychisches Bild die Kollektiverziehung draufzusetzen mit der Hoffnung, dass sich das Kind in dem Sinn entwickeln wird, wie es die Pädagogen wünschten. Und das ist ein Vorgang, der ist erschütternd und der hat Spätfolgen, die bis heute dauern.“
Das Kollektiv stand in den Heimen der DDR an oberster Stelle. Der Tagesablauf im Spezialkinderheim Pretzsch:
„Alles wurde gemeinsam erledigt, nur in der Gruppe, das Aufstehen, Frühstück, der Weg zur Schule, auf dem Heimgelände, das Mittagessen, gemeinsam zwei Stunden Hausaufgaben machen, zwei Stunden Freizeit auf dem Gruppenbereich, gemeinsam ‚Aktuelle Kamera – Nachrichten‘ schauen, anschließend politische Diskussion über Themen der Zeit und dann schlafen gehen im Achtmann-Schlafraum, zwischendurch noch Schrankkontrolle, dass alles auf den Zentimeter genau lag.“
Gewalt gab es in den Heimen in Ost und West, bilanzieren die Forscher. Zwar hatte die DDR die Prügel- und „ehrverletzende“ Strafen Ende der 60er Jahre abgeschafft. Zwar wurde hier nur selten rituell gestraft – etwa mit 20 Stockschlägen. Dennoch gehörten körperliche Übergriffe zur Tagesordnung, sagt Christian Sachse:
„Jemanden an den Ohren ziehen, ne Ohrfeige, ‚n Rippenstoß, am Arm durch das ganze Heim ziehen. Das gehörte faktisch zum Alltag. Das beschreiben fast alle Kinder und Jugendlichen, auch in den Normalheimen. Die haben das aber als so normal empfunden, dass sie das sozusagen als zum Alltag gehörig betrachten und die Erzieher offensichtlich auch.“
Die Bestrafungs-Unkultur hing letzten Endes vom Heimpersonal ab. Kerstin Kuzia erlebte im Spezialkinderheim Arrest und Essensentzug. Der Jugendwerkhof Hummelshain dagegen setzte mehr auf Rügen oder die Kürzung des Taschengeldes. Kuzia machte hier den „Teilfacharbeiterbrief Wirtschaftshilfe“, sprich Küchenhilfe, und schloss zum ersten Mal Freundschaften.
Als angebliche Anführerin eines geplanten Massenausbruchs denunziert, musste sie jedoch für viereinhalb Monate nach Torgau. Was hat sie dort erlebt?
„Vieles. Zu viel eigentlich. Also Torgau muss ich sagen war für mich wirklich von allen Einrichtungen das einschneidendste Erlebnis in meiner Persönlichkeit. Torgau war in meiner Ich-Person so angreifend und erniedrigend, dass ich eigentlich wirklich nur noch funktioniert hatte.“
Das in den Spezialheimen geschehene Unrecht unterscheidet sich von jenem der Normalheime, resümieren Christian Sachse und Karsten Laudien. Die Bilanz liest sich verheerend. Mit Essensentzug und Arrest, Schlägen und Strafsport seien an Folter grenzende Strafen verhängt worden. Die Arbeitserziehung, bei der selbst Unter-14-Jährige in der Produktion ausgebeutet wurden, sei teilweise in die Nähe von Zwangs- und Strafarbeit gerückt.
Hinzu kamen die Überbelegung vieler Heime, unzumutbare Wohn-, Lebens- und Betreuungsbedingungen, Kürzungen gesetzlicher Zuwendungen, ungenügende schulische Förderung sowie medizinische Betreuung – ein Zustand, den selbst interne Berichte der DDR kritisierten.
Dennoch scheuen die Autoren des Berichts „Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR“ sich davor, diese Heimerziehung als Unrechtssystem zu bezeichnen:
„Denn auch in der DDR erfolgten nicht alle Heimeinweisungen unbegründet und nicht die gesamte Praxis der Heimerziehung war rechtsverletzend oder menschenrechtswidrig.“
Kerstin Kuzia ist da anderer Meinung. Sie hat viele Jahre Therapie gemacht und – wie viele andere Betroffene – trotzdem ihre Erfahrungen nicht verarbeiten können. Die 44-Jährige, heute wegen Torgau rehabilitiert, berät Betroffene und tritt als Zeitzeugin in Schulen auf. Gemeinsam mit ehemaligen Heimkindern kämpft sie dafür, gesellschaftlich anerkannt und über den Fonds hinaus angemessen entschädigt zu werden. Sie liest aus den Expertisen heraus:
„... dass es wirklich um ein Unrechtssystem, ein Unrechtserziehungssystem im Prinzip in der DDR gab und die Politik das immer noch nicht so anerkennen will. Der 40-Millionen-Euro-Fonds kann nicht die Endlösung sein. Er kann die erste Anerkennung der Politik sein.“
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Was geschah in DDR-Erziehungsheimen?
Im Jugendwerkhof Torgau – eine Wohnstätte für schwer Erziehbare – sollen zu DDR-Zeiten Jugendliche sexuell missbraucht worden sein. Gabriele Beyler von der Initiativgruppe geschlossener Jugendwerkhof Torgau, hofft, dass sich weitere Opfer des Heimes melden, um die Aufarbeitung voran zu bringen.
Gabriele Beyler im Gespräch mit Jasper Barenberg | 07.04.2010
Jasper Barenberg: 60 sogenannte Jugendwerkhöfe gab es in der DDR. Als schwer erziehbar eingestufte Jugendliche sollten dort umerzogen werden. Schon damals besonders berüchtigt die Einrichtung in Torgau. Berichte über körperliche und seelische Misshandlungen dort füllen bereits einige Bücher. Nun kommt der wohl schlimmste Vorwurf hinzu. Über viele Jahre wurden Jugendliche dort offenbar auch sexuell missbraucht. Manche der früheren Zöglinge finden jetzt den Mut, darüber auch öffentlich zu sprechen. Heidemarie Puls etwa schildert, wie sie von einem Erzieher damals vergewaltigt wurde.
O-Ton Heidemarie Puls: In die Zelle rein und dann wusste man eigentlich, es war dann nach einigen Malen, vielleicht drei-, viermal, da wusste ich dann schon und da hat er mich dann auch darauf aufmerksam gemacht, dass ich mich nicht mehr so blöd anstellen sollte, und ich müsste langsam auch wissen, was er mag, und so möchte er das haben. Das wurde einfach auch so vordiktiert.
Barenberg: Heidemarie Puls, ein Opfer des Erziehungsheimes in Torgau. Am Telefon begrüße ich jetzt Gabriele Beyler von der sogenannten Initiativgruppe geschlossener Jugendwerkhof Torgau. Einen schönen guten Morgen, Frau Beyler.
Gabriele Beyler: Einen schönen guten Morgen.
Barenberg: Sie bemühen sich ja seit Jahren, die Zustände in Torgau zu dokumentieren und aufzuarbeiten. Im Mittelpunkt standen bisher, jedenfalls so wie ich das recherchieren konnte, die grausamen Erziehungsmethoden dort. Spielte das Thema sexueller Missbrauch bisher keine Rolle?
Beyler: Das Thema, der Aspekt des sexuellen Missbrauchs oder Misshandlungen, spielte bislang öffentlich keine Rolle. Erst jetzt im Zuge der aktuellen Debatte zu sexuellen Misshandlungen und Missbrauch in den Westheimen finden immer mehr Betroffene den Mut, jetzt ihre Geschichte, ihre Erlebnisse öffentlich zu machen. Ich denke, eine große Rolle spielt dabei, dass dieser Aspekt des sexuellen Missbrauchs erst jetzt für die DDR-Heime so öffentlich wird, dass das Schuld- und Schamgefühle bei den Opfern sehr groß ist, was diesen Teil ihrer Geschichte anbelangt, und dass man bislang nicht darüber geredet hat. Ich muss sagen, wir arbeiten die Geschichte der DDR-Heimerziehung seit den 90er-Jahren auf und haben sehr viele Kontakte, zahlreichen Kontakt zu Opfern und Betroffenen der DDR-Heime, und haben in den Gesprächen immer wieder schon herausgehört, dass es da auch noch mehr gegeben haben muss, außer psychische und physische Gewalt, die ja in den Heimen auf der Tagesordnung standen, und durch Hinweise in IM-Berichten zu sexuellem Missbrauch hatten wir schon immer den Verdacht, dass es so etwas gegeben hat. Jetzt im Zuge dieser aktuellen Debatte melden sich wie gesagt ganz, ganz viele Betroffene, die dieses jetzt öffentlich machen.
Barenberg: Das gilt ja auch für Heidemarie Puls, von der wir gerade einen kurzen Auszug gesendet haben, wie sie sich erinnert an die Ereignisse von damals. Frau Puls hat ein Buch geschrieben über ihre Erlebnisse, aber hat diesen Aspekt ausgeklammert und erinnert sich jetzt, oder geht jetzt auch in die Öffentlichkeit mit diesen Informationen. Sie selbst haben dazu beigetragen, Sie haben einen Aufruf gestartet an ehemalige Heimzöglinge, sie ermutigt, ihre Erfahrungen mitzuteilen. Wie fällt die Resonanz bisher insgesamt aus? Wie viel Resonanz bekommen Sie?
Beyler: Wir haben eine ganz große Resonanz, was wir eigentlich nicht erwartet hatten, auf diesen Aufruf. Bislang haben sich schätzungsweise über 40 Betroffene gemeldet, die von sexuellen Misshandlungen und Missbrauch, wenn man sich einen Überblick verschafft, eigentlich nicht nur in Torgau, sondern in allen DDR-Heimen berichten. Den Aufruf haben wir gestartet, weil wie gesagt einige Betroffene sich bei uns bereits gemeldet haben, wir aber noch den anderen, noch mehr Zeitzeugen, nenne ich sie mal, Mut machen wollten, sich zu melden, da gerade dieser Teil der Geschichte nirgendwo verschriftlicht wurde. Wir werden in keinem Archiv der Bundesrepublik Dokumente finden, die das belegen. Umso wichtiger sind die Zeitzeugen und die Betroffenen selbst, die mit ihren Erlebnissen zur Aufarbeitung und Aufklärung beitragen können und sollen.
Barenberg: Zögern die Betroffenen, sich an Sie zu wenden, oder geschieht das in einem Vertrauen darauf, dass es ein wichtiger Schritt ist, auch diesen Aspekt künftig stärker zu beleuchten?
Beyler: Ich denke, die Betroffenen, die sich bei uns melden, oder bislang bei uns gemeldet haben, zögern nicht und sind nun bereit, diesen Teil ihrer persönlichen Leidensgeschichte in der Kindheit öffentlich zu machen.
Barenberg: In der DDR gab es ja insgesamt 474 Kinderheime, darunter auch diese 60 sogenannten Jugendhöfe, von denen Torgau ja noch mal ein Sonderfall ist, weil besonders berüchtigt, weil geschlossen. Haben Sie den Eindruck, dass es sich nur um die Spitze eines Eisberges handelt?
Beyler: Derzeit könnte man meinen, es handelt sich nur um die Spitze des Eisberges. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass es auch zahlreiche Opfer gibt, die das nie öffentlich machen werden. Ich selbst habe persönlich erlebt, dass 56-jährige Männer oder Frauen, also in einem relativ hohen Alter, jetzt erstmals über ihre Heimgeschichte und über ihre Erlebnisse dort berichten und vorher nie mit Familie, Kindern und Angehörigen darüber gesprochen haben.
Barenberg: Welche Gründe nennen die Betroffenen dafür, außer der allgemeinen Öffentlichkeit, die jetzt auf dieses Thema gelenkt ist?
Beyler: Na ja, was die DDR-Heime anbelangt und insbesondere die Jugendwerkhöfe, hängt dieser Makel, der einem Insassen zu DDR-Zeiten schon anhing, heute noch nach oder an. Es hieß ja immer, wer im Jugendwerkhof war, der war nicht umsonst da, das hat schon seine Gründe und das war schon richtig. Ich denke, es ist heute ganz wichtig aufzuklären, warum, wieso jemand zu DDR-Zeiten in diese sogenannten Spezialheime der Jugendhilfe gekommen ist, nämlich aus teilweise ganz banalen Gründen. Man sah anders aus, man dachte anders, man redete anders. Es gab wirklich banale Gründe, um in diese Heime eingewiesen zu werden, und was man dort erlebt hat, das muss unbedingt heute noch stärker öffentlich gemacht werden.
Barenberg: Wo sehen Sie denn bei dem, was Sie von den Betroffenen zu hören bekommen, Parallelen, wo Unterschiede zu dem, was in den letzten Wochen vor allem mit Blick auf den Westteil des Landes diskutiert wird und wurde?
Beyler: Parallelen haben wir schon 2006 festgestellt mit der Veröffentlichung des Buches von Peter Wensierski zum Missbrauch oder zu den Vorgängen in den Westheimen der frühen Bundesrepublik. Wenn man sich den Tagesablauf, die Strukturen innerhalb dieser Heime anschaut, dann sind durchaus direkte Vergleiche mit den Strukturen in den DDR-Heimen möglich. Hinzu kommt jetzt aktuell neu dieser Aspekt der sexuellen Misshandlungen, die in beiden, also West- und Ostheimen stattgefunden haben. Ich denke, dieser Aspekt ist in jedem Fall systemunabhängig zu sehen, und deswegen finde ich die Einrichtung des Runden Tisches durch die Bundesregierung als eine einmalige Chance und Möglichkeit, solche Aspekte, die in Heimerziehungen und Heimen, geschlossenen Heimen auftreten können, ganz wichtig, gesamtdeutsch aufzuarbeiten.
Barenberg: Sind Sie denn eingeladen zu diesem Runden Tisch, den die Bundesregierung, den drei Ministerien ja planen?
Beyler: Bislang noch nicht, kann ich Ihnen sagen, aber wir tun natürlich alles dafür, dass die Ostheimkinder mit an den Tisch kommen und nicht unter den Tisch fallen.
Barenberg: Wie wichtig wäre es – es gibt ja auch andere Opfergruppen, die sich jetzt schon beklagen, nicht eingeladen worden zu sein –, wie wichtig ist diese Perspektive für die Arbeit des Runden Tisches?
Beyler: Ich denke, es ist wichtig. Ich denke, diese sexuellen Misshandlungen und der Missbrauch fand in beiden, im Osten und im Westen statt, und um künftig solche Dinge in Heimen – und es wird immer Heime geben – zu verhindern, muss das gemeinsam aufgearbeitet und aufgeklärt werden, um Möglichkeiten und Lösungen zu finden, die das zukünftig verhindern.
Barenberg: Gabriele Beyler, Vorsitzende der Initiativgruppe geschlossener Jugendwerkhof in Torgau. Vielen Dank, Frau Beyler, für dieses Gespräch.
Beyler: Ich danke Ihnen.
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„Wir waren die Rechtlosen“
Schläge, Demütigungen, Arbeitszwang – das war Alltag in vielen deutschen Kinderheimen in den 50er- und 60er-Jahren. Sonja Djurovic sitzt als Betroffene am Runden Tisch. Die Chancen auf finanzielle Entschädigung schätzt sie als gering ein, obwohl viele Opfer von Hartz IV leben.
Sonja Djurovic im Gespräch mit Jasper Barenberg | 09.12.2010
Jasper Barenberg: Der „Runde Tisch Heimerziehung“ tritt heute zum letzten Mal in Berlin zusammen. Eine generelle Entschädigung wird es also absehbar nicht geben. Wie bitter wäre diese Bilanz? Das habe ich vor der Sendung Sonja Djurovic gefragt, die seit zwei Jahren mit am Runden Tisch arbeitet und sitzt.
Sonja Djurovic: Das wäre einfach ein Skandal, es wäre eine Riesenkatastrophe für alle ehemaligen Heimkinder, die ja wirklich die Erwartungshaltung haben, dass es was geben wird. Das ist die einzige Chance oder einmalige Chance, die die ehemaligen Heimkinder haben, zu ihrem Recht zu kommen, und wenn das wieder alles unter den Teppich gekehrt wird, dann kann man wirklich an nichts mehr glauben und schon gar nicht an die Gerechtigkeit von dem Staat. Denn was damals passiert ist, das war ein Unrecht in einem Rechtsstaat, und dann muss der Staat, die Länder, also der Bund, die Länder und die Kirchen und die ganzen Trägerorganisationen, die müssen zu dem Unrecht stehen.
Barenberg: Sie haben nun selber mitgewirkt die vergangenen zwei Jahre am Runden Tisch für Heimerziehung, Sie haben die Diskussionen verfolgt, es gab einen Zwischenbericht. Wie überraschend ist denn der Stand der Dinge? Wie überraschend ist es, dass es offenbar keine Zusagen gibt für eine generelle Entschädigung?
Djurovic: Ja, gut, wir hatten jetzt fast zwei Jahre die Erwartungshaltung, dass wirklich was Positives für uns am Ende herauskommen wird. Der Runde Tisch, der kann ja nur empfehlen, und er muss auch entsprechend empfehlen, dass die Länder, Bund und so weiter auch entsprechend entscheiden werden zu unseren Gunsten. Aber nachdem wir unsere Lösungsvorschläge eingereicht hatten, war das irgendwie plötzlich eine ganz andere Situation am Runden Tisch. Ich hatte so, also das ist mein persönliches Gefühl, dass man Schadensminderung betreiben will, und es wird auch ziemlich viel relativiert und heruntergespielt. Man sagt ja auch in dem Abschlussbericht, dass man den ehemaligen Heimkindern glaubt. Ja entweder man glaubt uns, oder man glaubt uns nicht!
Barenberg: Und Sie haben eher das Gefühl, man nimmt Sie gar nicht ernst in Ihrer Funktion als Opfer, als Zeitzeugen, als Personen, die erlebt haben, was sie eben erlebt haben?
Djurovic: Genau. Es wurden ja auch viele wissenschaftliche Expertisen in Auftrag gegeben, die ja auch aussagen, dass großes Unrecht geschehen ist und dass es auch in vielen Punkten Verstöße gegen das Grundgesetz waren. Das Grundgesetz gilt ab 1949 und hat eigentlich auch für uns gegolten, aber wir waren die Rechtlosen. Wenn man sich das alles mal so durch den Kopf gehen lässt, rückwirkend, das Grundgesetz hat für uns nicht gegolten, zu keiner Zeit und in keiner Weise.
Barenberg: Es gab in diesen Heimen – Sie waren selber in den 60er-Jahren in einem evangelischen Diakonissenheim in Franken ...
Djurovic: Genau.
Barenberg: ... für vier Jahre –, es gab dort Demütigungen wie in anderen Heimen auch, es gab Einsperren, es gab die Schläge, den Arbeitszwang. Was davon belastet Sie heute noch am meisten, wenn man das überhaupt sagen kann?
Djurovic: Also man hat mich meiner Jugend beraubt. Ich habe mir nichts zu Schulden kommen lassen, dass man mich jetzt so einfach wegsperren konnte. Man hat mir meine Berufschancen genommen, ich musste dort im Heim Schneiderin lernen, ich habe nie einen Tag in dem Beruf gearbeitet. Das Wort „Erziehung“ bedeutet ja was ganz anderes, als was tatsächlich in den Heimen passiert ist. Ich wurde entlassen und ich war zerstört und ich konnte mich in der normalen Gesellschaft überhaupt nicht zurecht finden. Es wurde einem nichts mit auf den Weg gegeben, es ging nur um Zucht und Ordnung, dazu täglich Demütigungen und wir sind sowieso, aus uns wird nichts, und wir sind sowieso von vornherein zum Scheitern verurteilt. Das hat man verinnerlicht, und das wurde einem mit auf den Weg gegeben, aber keine Vorbereitung auf das Leben. Deshalb sind auch viele von den ehemaligen Heimkindern später auch gescheitert, oder haben nie wirklich einen Anschluss an das Leben gefunden.
Barenberg: Nun wurde in Aussicht gestellt zwar keine generelle Entschädigung, wohl aber ein Fonds für Härtefälle. Das ist sozusagen das, was im Moment sich andeutet. Warum reicht das nicht?
Djurovic: Ja, das ist jetzt schwierig zu erklären. Härtefälle, die einzelnen oder wenige, die müssen nachweisen, dass sie unter Folgeschäden leiden, und dadurch passiert natürlich auch, dass viele Menschen, die eh schon traumatisiert sind und mit dem Trauma ihr ganzes Leben leben mussten, wieder retraumatisiert werden, und dann sind diese Hürden viel zu hoch, und das kann man keinem Menschen zumuten. Von den wenigen, die dann eventuell in Frage kämen, wird dann noch einmal ausgesondert und im Endeffekt käme kaum jemand in den Genuss einer finanziellen Entschädigung.
Barenberg: Wie viel ist es denn in Ihren Augen dann im Vergleich dazu wert, dass die Gesellschaft immerhin nach Jahrzehnten jetzt Ihre Geschichten, Ihre Geschichten zur Kenntnis nimmt, und wie wichtig ist es, dass das auch weitergeht, dass diese Geschichten weiter gründlich erforscht, aufgearbeitet, gesammelt werden? Ist das ein Erfolg immerhin?
Djurovic: Ja. Das ist schon ein Erfolg, dass diese ganze Debatte jetzt öffentlich wurde, und vor allen Dingen, dass so was auch nie mehr passiert, was mit uns passiert ist zu der damaligen Zeit. Es hat sich natürlich sehr viel verändert auf dem Gebiet. Es gibt natürlich immer noch Übergriffe auf Kinder, aber es ist kein Vergleich zu damals. Wir sind schon auch dabei, viel zu machen, dass sich so was auch nie mehr wiederholen kann.
Barenberg: Frau Djurovic, haben Sie noch einen Rest Hoffnung, dass der Abschlussbericht doch noch in Ihrem Sinne ausfallen wird?
Djurovic: Also dazu kann ich nur sagen, die Hoffnung stirbt zuletzt. Wir versuchen alles, was in unseren Möglichkeiten steht, und man darf wirklich die Hoffnung nie aufgeben, aber im Grunde genommen weiß ich, dass man sich unseren Forderungen auf eine finanzielle Entschädigung auf keinen Fall anschließen wird. Da muss wirklich ein Wunder passieren.
Barenberg: Sie haben kürzlich einmal gesagt, nach zwei Jahren Arbeit am Runden Tisch gehen Ihnen jetzt so langsam die Kräfte aus, geht Ihre Kraft zu Ende. Haben Sie jetzt schon das Gefühl, dass Ihr Einsatz, Ihre Arbeit vergebens war?
Djurovic: Nein, das denke ich nicht. Der Runde Tisch, der hat sicher auch viele gute Seiten. Diese ganze Debatte, das Thema, das ist öffentlich geworden, die Presse hat viel berichtet über uns, und es gibt schon viele positive Dinge. Aber die Aufarbeitung war meiner Meinung nach mehr die Aufarbeitung unseres Vis-à-vis, also ich will jetzt nicht unbedingt sagen unserer Gegenseite, aber es wurde ja nur aufgearbeitet, was die uns vorgegeben haben. Aber trotzdem: Umsonst war es eigentlich nicht. Aber wir haben von Anfang an damit gerechnet, dass am Ende eine finanzielle Entschädigung für die Betroffenen herauskommt, weil viele von uns, die leben einfach am Existenzminimum, also leben von Hartz IV oder der Grundsicherung, und das hat man auf die Heimzeit, die Heimerziehung zurückzuführen. Die Menschen hatten überhaupt keine Bildungschancen. Es gibt auch einige wenige, die es dann geschafft haben, die haben aber genauso viel erlitten wie andere, und deswegen wollen wir auch eine finanzielle Entschädigung für die armen ehemaligen Heimkinder sowie auch für die ehemaligen Heimkinder, denen es heute besser geht.
Barenberg: Sonja Djurovic sitzt als Opfer der Heimerziehung am „Runden Tisch Heimerziehung“. Vielen Dank für das Gespräch, Frau Djurovic.
Djurovic: Ja, gerne.
https://www.deutschlandfunk.de/
2.1 Online-Artikel zur institutionellen und personellen Nazi-Kontinuität in der Heimerziehung nach 1945
Gedanken zur Aufarbeitung in der Johannes-Diakonie Mosbach
Von Richard Lallathin
Zu Beginn dieses Textes geht es zunächst allgemeiner um kirchliche Einrichtungen im Bereich der Behindertenhilfe in Baden-Württemberg. Nachfolgend schildert der Autor seine Gedanken zur Aufarbeitung in der Johannes-Diakonie Mosbach.
Bis weit in die Zeit nach dem 2. Weltkrieg waren kirchliche Einrichtungen die einzigen Anbieter von institutionalisierter und spezialisierter Hilfen für Menschen mit Behinderungen. Diese Einrichtungen waren in der Regel geschlossene Einheiten oder dörfliche Gemeinschaften. Das Leben folgte dem Rhythmus des Kirchenjahres; der Tagesablauf wurde durch Andachten und Gottesdienste strukturiert. Bewohner*innen und Mitarbeitende verstanden sich als christliche Hausgemeinschaft. Jeder und jede hatte seinen und ihren festen Platz mit je eigener Aufgabe und Rolle in dieser Gemeinschaft.
Der Betonung der christlichen Grundhaltung entsprach auf der anderen Seite die Erwartung von Menschen mit Behinderung bzw. deren Angehörigen, hier einen „guten Ort“ zum Leben zu finden.
Der alles überstrahlende Name ist bis heute die „v. Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel“ in Bielefeld. In Württemberg sind insbesondere zu nennen: Als evangelische Einrichtungen die Pfingstweide bei Tettnang und Mariaberg/Gammertingen als die ältesten Einrichtungen, die Zieglersche in Wilhelmsdorf, Stetten im Remstal und als katholische Einrichtung die Stiftung Liebenau/Ravensburg; auf badischer Seite das Josefshaus in Herten/Lörrach (katholisch) und auf evangelischer Seite das Epilepsiezentrum Kork sowie die 1879 in Karlsruhe gegründete und 1880 in Mosbach errichtete Johannes-Diakonie.
Ich habe als junger Mensch als Ferienhelfer in der Johannes-Diakonie Mosbach und als Student und ehrenamtlicher Mitarbeiter in den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel in Bielefeld prägende Zeiten und intensive Begegnungen mit Menschen mit Behinderung und auch mit Mitarbeitenden erfahren dürfen. Ich habe diese beiden Großeinrichtungen der Diakonie als Orte erlebt, an denen der christliche Geist Gestalt annahm in Form der tätigen Nächstenliebe und der Hilfe für den „geringsten Bruder“ bzw. „die geringste Schwester“ (Matthäus-Evangelium 25,40).
Mit besonderer Betroffenheit habe ich deshalb die Diskussionen um Gewalt und Missbrauch verfolgt, die Menschen erleiden mussten, die sich der Fürsorge und Unterstützung in kirchlichen Einrichtungen anvertraut haben. Die zusammenfassende Erkenntnis vieler Studien ist, dass Gewalt generell und strukturell in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe vorkam und vorkommt. Im Zusammenhang der Diskussionen um Erziehungsheime wurden diese einmal so beschrieben: Sie waren eine Mischung aus Kloster, Kaserne und Gefängnis.
Um das Jahr 2010 wandte sich ein ehemaliger Bewohner an die Johannes-Diakonie: Er berichtete davon, als Jugendlicher Ende der 1960er Jahre bei uns Gewalt erfahren zu haben. Daraufhin gaben wir eine Studie in Auftrag, mit dem Ziel, den Alltag in den 1950er und 1960er Jahren und das Vorkommen von Gewalt in dieser Zeit zu untersuchen. Die Studie wurde am Sozialwissenschaftlichen Frauenforschungsinstitut der Evangelischen Hochschule Freiburg unter der Leitung von Professorin Cornelia Helfferich erstellt. Der Abschlussbericht wurde im Oktober 2012 unter dem Titel „Historische Aufarbeitung: Der Alltag in den 1950er und 1960er Jahren in der Johannes-Diakonie Mosbach und das Vorkommen von Gewalt“ vorgelegt.
Diese Studie bestätigte das bereits in weiteren Studien zu anderen Einrichtungen gewonnene Bild: Die besondere Situation der ersten Nachkriegsjahre begünstigte die Exklusion von Menschen mit Behinderung. Das nationalsozialistische Rasse-, „Euthanasie“- und Herrenmenschen-Denken war mit Kriegsende keineswegs verschwunden. Bis weit in die 1960er Jahre fand die Arbeit mit behinderten Menschen unter katastrophalen Bedingungen statt. Die bauliche Situation hatte sich praktisch seit Beginn des 20. Jahrhunderts nicht geändert. Es gab zu wenig Mitarbeitende und diese waren fachlich kaum ausgebildet. Manche waren durch den Krieg traumatisiert oder sie praktizierten Erziehungsmethoden, die sie sich im Nationalsozialismus angeeignet hatten. Und heute wissen wir auch, dass pädophil veranlagte Menschen gezielt ihren Arbeitsplatz dort gesucht haben, wo sie abhängigen Menschen nahe sein konnten. Verschärfend kam hinzu, dass sehr schwer behinderte Menschen nicht verbalisieren können, was ihnen an Unrecht angetan wird – oder es wurde ihnen nicht geglaubt, wenn sie von erfahrenem Unrecht und von Gewalt berichteten. Zugleich waren die Arbeitsbedingungen für Mitarbeitende durch Personalnot, Überlastung und mangelnde Qualifikation bestimmt.
Zu dieser katastrophalen Situation konnte es dadurch kommen, dass in den ersten Nachkriegsjahren die Behinderteneinrichtungen keinen Anteil bekamen an dem wirtschaftlichen Aufschwung und an der schnellen Verbesserung der Lebensverhältnisse in Deutschland. So waren auch die Einrichtungen Teil der strukturellen Exklusion und Vernachlässigung von Menschen mit Behinderung. Dennoch sollte gewürdigt werden, dass viele Mitarbeitende in dieser Zeit ebenfalls unter den Bedingungen litten und mit hohem Einsatz zumindest die elementaren Lebensbedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner zu erfüllen versuchten.
In den vergangenen Jahren haben sich mehrere Menschen an mich gewandt, die in den 1950er Jahren in unserer und in anderen Einrichtungen Gewalt erfahren haben. Die Bandbreite geht dabei von Schlägen und körperlicher Züchtigung über Zwangsmaßnahmen beim Essen bis hin zur Erzeugung von für Kinder existenzieller und lebensbedrohlicher Angst. Es wird von schlechtem Essen berichtet. Die Kinder sind gezwungen worden, es einzunehmen und den Teller vollständig leer zu essen. Wenn sich ein Kind übergeben hat, musste es das Erbrochene aufessen. Kinder bloßzustellen und vor anderen herabzuwürdigen, war verbreitet. Eine Person berichtete mir, dass sie vor die offene Ofentür gehalten wurde. Ihr wurde gedroht, beim nächsten Fehlverhalten in den Ofen geworfen zu werden. Als besonders belastend wurde von allen genannt, dass ihnen mit Konsequenzen gedroht wurde, falls sie von dem Geschehenen außerhalb der Einrichtung, z.B. den Eltern, berichten. Zugleich hatten sie aber auch den Eindruck, dass ihnen, hätten sie damals davon erzählt, nicht geglaubt worden wäre. Für die meisten ist es eine große Entlastung und Befreiung, dass sie heute von ihrem erlittenen Unrecht berichten können – und ihnen geglaubt und in vielen wissenschaftlichen Studien bestätigt wird, dass ihre kindliche Wahrnehmung richtig war.
Davon unabhängig zeigten sich mache unzufrieden mit den aktuellen kirchlichen und staatlichen Regelungen zur Wiedergutmachung ihres erfahrenen Leides.
In einigen Gesprächen war ich überrascht, wie schnell wir auf ganz andere Themen zu sprechen kamen, die nichts mehr mit dem erfahrenen Unrecht zu tun hatten. Offensichtlich war das Aussprechen dessen, was sie als Kind erlebt und jahrzehntelang mit sich herumgetragen haben, ein guter Abschluss einer schweren und viele Jahre andauernden Belastung.
In den zurückliegenden Jahrzehnten haben sich die Rahmenbedingungen der Arbeit mit behinderten Menschen grundlegend geändert. Mit der Einführung des Bundessozialhilfegesetzes im Jahr 1961 wurde sie endlich auch materiell besser ausgestattet. Ab Mitte der 1960er Jahre erfolgte ein geradezu explosionsartiger Aus- und Umbau der traditionellen Anstalten zu modernen Rehabilitationszentren. Es wurden neue Wohnheime gebaut und die Großgruppen mit Schlafsälen für 20 und mehr Bewohnerinnen und Bewohnern wurden abgeschafft. Seit 2009 gilt in Baden-Württemberg die Regelung, dass jeder Mensch in einer stationären Einrichtung das Recht auf ein Einzelzimmer mit angeschlossener Nasszelle hat. Es entstanden in den Werkstätten neue Arbeitsplätze. Die diagnostischen und therapeutischen Angebote wurden weiter ausgebaut. Die Mitarbeitenden wurden qualifiziert; in den neu geschaffenen Fachschulen wurden sie zu Heilerziehungspflegerinnen und -pflegern ausgebildet. Ein breites Spektrum an Fächern, von Medizin über Psychologie und Pädagogik bis hin zu Religion und Ethik, befähigt sie, Menschen mit Behinderung angemessen und fachlich kompetent zu begleiten. Weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anderer Professionen erweitern das Spektrum der Assistenzleistungen für Menschen mit Behinderung.
Inzwischen ist Inklusion das Leitbild der Eingliederungshilfe (wie die Arbeit mit behinderten Menschen in der Fachsprache heißt) geworden. Die UN-Behindertenrechtskonvention, vom Bundestag 2009 verabschiedet, erklärt die Inklusion zur Grundlage der Behindertenarbeit. Im Zentrum der Konvention steht das Recht von Menschen mit Behinderung, ein möglich selbstbestimmtes Leben zu führen. „Behinderung“ wird jetzt nicht mehr vornehmlich medizinisch, sondern gesellschaftlich verstanden. Es wird nicht mehr vorrangig gefragt, welche körperlichen und geistigen Einschränkungen ein Mensch hat, vielmehr wird der Blick auf die gesellschaftlichen Gegebenheiten gerichtet, die ihn davon abhalten, am Leben umfassend teilhaben zu können. Die Arbeit mit behinderten Menschen wird in dieser Perspektive zu Menschenrechtsarbeit.
Dennoch ist es eine bleibende Aufgabe, auch unter den verbesserten Rahmenbedingungen darauf zu achten, dass Menschen in Einrichtungen der Behindertenhilfe keine Form von Gewalt oder Unfreiheit erleiden müssen. In Aus- und Fortbildung werden Mitarbeitende hierfür sensibilisiert, Gewaltschutzkonzepte werden erarbeitet und in der Praxis umgesetzt. Kein Mensch darf Lebenssituationen ausgesetzt werden, in denen er Gewalt erlebt oder von Ängsten bestimmt ist. Das gilt für jeden Menschen – aber ganz besonders für Menschen, die Aufgrund ihrer Behinderung von anderen Menschen abhängig und auf ihre Fürsorge angewiesen sind.
Richard Lallathin war von 1989-2000 Gemeindepfarrer in Freiburg und ist seit 2000 als Pfarrer in der Johannes-Diakonie Mosbach tätig.
Literaturhinweise:
Cornelia Helfferich: Historische Aufarbeitung: Der Alltag in den 1950er und 1960er Jahren in der Johannes-Diakonie Mosbach und das Vorkommen von Gewalt, Freiburg 2012
Schmuhl, Hans-Walter; Winkler, Ulrike, „Als wären wir zur Strafe hier“. Gewalt gegen Menschen mit geistiger Behinderung. Der Wittekindshof in den 1950er und 1960er Jahren, Bielefeld 2011
https://www.leo-bw.de/
Gequält, erniedrigt, drangsaliert - Der Kampf ehemaliger Kur-Kinder um Aufklärung
10.08.2020 ∙ Dokumentation & Reportage ∙ Das Erste
UT
Dokus im Ersten
Zwischen den 50er und den 80er Jahre wurden Millionen Kinder auf sogenannte Erholungskuren geschickt. Mehrere der Heime wurden von ehemaligen NS-Verbrechern geleitet. Die ehemaligen Verschickungskinder leiden oft noch heute an den Folgen.
Bild: SWR
https://www.ardmediathek.de/
Verschickungskinder
Kinder-Kurheime jahrzehntelang von NS-Akteuren geleitet - Auch ein Kriegsverbrecher betreute jahrelang Kinder
Nach Recherchen des ARD-Politikmagazins REPORT MAINZ sind in Deutschland nach dem Krieg mehrere Kurheime für Kinder von hochrangigen Nationalsozialisten geleitet worden.
Kinder während einer Mahlzeit im Kurheim Kinder während einer Mahlzeit im Kurheim
Ihnen wurden über Jahre zehntausende Kinder zu sogenannten Erholungskuren anvertraut. In diesen Kuren sollten die Kinder bis in die achtziger Jahre "aufgepäppelt" werden. Doch vielfach wurden sie systematisch gequält und misshandelt. Das ARD-Politikmagazin hat drei Fälle hochrangiger NS-Akteure akribisch recherchiert.
Kriegsverbrecher Werner Scheu
Unter ihnen ist der verurteilte Kriegsverbrecher Werner Scheu. Auf der Nordseeinsel Borkum leitete er jahrelang das Kinderkurheim "Mövennest". In der NS-Zeit war Scheu Mitglied der NSDAP und der Waffen-SS. 1941 war er als Offizier an der Erschießung von 220 litauischen Juden beteiligt. Scheu tötete mehrere von ihnen und wurde deshalb später zu lebenslanger Haft verurteilt. In seinem Heim wurden Kinder drangsaliert und gequält. Eine Betroffene, die in Scheus Heim zur Kur war, erinnert sich im Gespräch mit REPORT MAINZ, zur Strafe in der Nacht stundenlang barfuß auf dem kalten Fußboden gestanden zu haben. Einmal sei sie sogar in die Sauna eingesperrt worden.
SS-Generalmajor Hugo Kraas
In St. Peter Ording führte Hugo Kraas in den 70er-Jahren das Kinderkurheim "Seeschloß". Kraas war einer der ranghöchsten Generäle der Waffen-SS, ebenfalls Mitglied in der NSDAP. Ihm wurden zahlreiche Kriegsorden verliehen. Nach Recherchen von REPORT MAINZ blieb er bis zu seinem Tod ein überzeugter Nazi. So nahm er etwa 1966 an der Beerdigung des SS-Oberst-Gruppenführers Sepp Dietrich teil, einem verurteilten Kriegsverbrecher. Dort präsentierte er sich mit Ritterkreuz und weiteren NS-Orden. Außerdem war Kraas unter anderem Mitglied in der "Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS" (HIAG), die zeitweise vom Verfassungsschutz als rechtsextremistisch bewertet und beobachtet wurde.
"NS-Arzt" Albert Viethen
Im bayerischen Berchtesgaden war Albert Viethen ärztlicher Leiter des Kinderkurheims "Schönsicht". Darüber hinaus arbeitete er in weiteren Kinderkurheimen. In der NS-Zeit war Viethen Mitglied in rund einem Dutzend NS-Organisationen - von der NSDAP über den NS-Ärztebund bis zur SS. Außerdem war er an Euthanasie-Verbrechen beteiligt. Aus seiner Klinik wurden während der Nazi-Zeit rund 20 Kinder in eine Tötungsanstalt überwiesen. Sieben wurden daraufhin dort nachweislich ermordet. Auch im Kinder-Kurheim „Schönsicht“ wurden Kinder gequält, berichten Betroffene im Gespräch mit REPORT MAINZ. 1963 wurde Viethen angeklagt wegen Beihilfe zum Mord. Er kommt davon, weil er von den Mordaktionen nichts gewusst haben will. Historiker werten das als unglaubwürdige Ausrede.
Kinder in Kuren systematisch gequält
Bis in die 80er-Jahre wurden Millionen Kinder in Kuren geschickt. Dort sollten sie sich erholen und aufgepäppelt werden. Inzwischen ist bekannt, dass Kinder während dieser Kuren systematisch gequält und misshandelt wurden. Eine Initiative von Betroffenen fordert, dass die Geschehnisse während der Kuren aufgearbeitet werden. Anja Röhl von der "Initiative Verschickungskinder" sagte REPORT MAINZ, dass man verrohe, wenn man so viel morde wie in der Zeit des Faschismus. "Diese Verrohung schlägt sich auf das Menschenbild nieder und auch auf den Umgang mit Kindern", so Röhl.
Politik verspricht Aufarbeitung
Im Interview mit REPORT MAINZ sicherte der Vorsitzende der Sozialministerkonferenz, Manfred Lucha, zu, die jahrzehntelangen und flächendeckenden Misshandlungen während der Kinderkuren aufzuarbeiten. "Wir blicken da in einige Untiefen, in einige dunkle Löcher", so Lucha. Alles, was während der Kuren schlecht und ungesetzlich gewesen sei, müsse aufgearbeitet werden. Schließlich trage der Staat die Verantwortung für den Schutz der Kinder. "Da darf es kein Staatsversagen geben", so Lucha.
Mehr zu dem Thema: Montag, 10. August, 22:00 Uhr in der Sendereihe "Exclusiv im Ersten"
"Gequält, erniedrigt, drangsaliert. Der Kampf ehemaliger Kurkinder um Aufklärung"
Stand: 10.8.2020, 5.00 Uhr
https://www.swr.de/report/
"Report Mainz" deckt aufKinder wurden jahrelang in Kurheimen misshandelt - auch NS-Akteure waren beteiligt
Montag, 10.08.2020, 10:15
In Kurheimen sollten Kinder bis in die 80er-Jahre neuen Lebensmut finden und gestärkt werden. Eine ARD-Reportage deckt nun auf: Manche der Heime wurden von NS-Akteuren geleitet. In allen Heimen sollen die Kinder gequält und misshandelt worden sein.
Kinder, die in den 60er- bis 80er-Jahren in der Bundesrepublik in sogenannte Kinderkurheime zur Erholung verschickt wurden, sollen teilweise gequält und misshandelt worden sein. Das zeigen Recherchen von "Report Mainz". Der Redaktion liegen ca. 250 Erlebnisberichte ehemaliger Kurkinder vor. Darin berichten diese von Drohungen und Schlägen, Erniedrigungen und Quälereien wie beispielsweise den Zwang, das eigene Erbrochene immer wieder essen zu müssen.
Solche Misshandlungen soll es bundesweit in den Kindererholungsheimen von der Nordsee bis nach Bayern und Baden-Württemberg gegeben haben. Gesammelt hat diese Berichte Anja Röhl, die eine Initiative ehemaliger "Verschickungskinder" gegründet hat. Sie fordert eine Aufarbeitung der Geschehnisse während der Kuren.
Sechs ehemalige Kurkinder berichten in ARD-Reportage
Erstmals reden nun gegenüber "Report Mainz" sechs Frauen über ihre damaligen Erlebnisse: "Das war ein ganz schlimmer Albtraum für mich", sagt die heute in Berlin lebende Karin Kanitz. Leonie Seliger, heute wohnhaft in Canterbury, erinnert sich: "Richtiger Sadismus ist da abgelaufen." Als Trauma bezeichnet Katharina Petersen-Häusler ihren Aufenthalt in einem Kinderkurheim auf Sylt, der inzwischen mehr als 50 Jahre zurück liegt, noch heute.
Als besonders traumatisch beschreiben viele die Situation im Speisesaal: Das Essen in den Einrichtungen wird übereinstimmend als eklig beschrieben: "Es wurde erbrochen in den Teller rein, und die Kinder mussten das Erbrochene mit dem restlichen Essen noch mal essen. Haben wieder erbrochen, mussten es wieder essen, bis zum Ende. Das eigene Erbrochene. Das ist wirklich eines der schlimmsten Geschehnisse. Und das beschreiben fast alle", sagt Anja Röhl.
Frauen leiden bis heute unter den Geschehnissen
Noch heute leiden die Frauen zum Teil massiv unter den inzwischen 50 Jahre zurück liegenden Geschehnissen, dies wird in allen Interviews deutlich: "Wir kamen anders zurück, als wir hingegangen sind. Wir kamen verletzt und verwundet zurück, in unseren Seelen und auch körperlich", fasst Anja Röhl ihre Erfahrungen von damals zusammen.
"Das ging über zehn, zwanzig bis dreißig Jahre. Das betrifft Millionen Kinder und dieses muss aufgearbeitet werden", sagt Anja Röhl gegenüber "Report Mainz" und fordert "staatliche Hilfen". Diese sollten ähnlich organisiert sein wie der Fonds der ehemaligen Heimkinder.
Kinder sollten in den Kuren gestärkt und mit "besonderer Liebe" behandelt werden
Aus Regierungsunterlagen geht hervor, dass bedürftige Kinder durch die Kuren gestärkt werden sollten. Dabei sollte das Personal "ihnen Lebensmut geben" und mit "einer besonderen Liebe" begegnen. 1963 gab es 839 solcher Kinderkurheime mit Platz für bis zu 350.000 Kinder pro Jahr. Im gleichen Jahr sind allein aus NRW über 200.000 kurbedürftige Kinder verschickt worden.
Beteiligt an diesen Kinderverschickungen waren damals u. a. Jugendämter, Kommunen, Krankenkassen, DRK, Arbeiterwohlfahrt, Diakonie und Caritas. Auf Anfrage von "Report Mainz" erklären sie übereinstimmend, dass sie von solchen Misshandlungen, von absoluten Einzelfällen abgesehen, keinerlei Kenntnis hätten.
Das Bundesgesundheitsministerium und die Diakonie ließen die Fragen von "Report Mainz" unbeantwortet. Die Caritas versichert, sich intensiv an Aufklärung und Aufarbeitung beteiligen zu wollen, sofern ihre Einrichtungen davon betroffen seien. In welchem Ausmaß es in den vielen Kinderkurheimen zu diesen beschriebenen Misshandlungen in der Vergangenheit gekommen ist, ist bis heute unbekannt.
NS-Akteure nahmen leitende Positionen ein
Nach Recherchen des Politikmagazins sind mehrere dieser Kurheime nach dem Krieg von hochrangigen Nationalsozialisten geleitet worden. "Report Mainz" hat drei Fälle hochrangiger NS-Akteure akribisch recherchiert.
Kriegsverbrecher Werner Scheu
Unter ihnen ist der verurteilte Kriegsverbrecher Werner Scheu. Auf der Nordseeinsel Borkum leitete er jahrelang das Kinderkurheim "Mövennest". In der NS-Zeit war Scheu Mitglied der NSDAP und der Waffen-SS. 1941 war er als Offizier an der Erschießung von 220 litauischen Juden beteiligt. Scheu tötete mehrere von ihnen und wurde deshalb später zu lebenslanger Haft verurteilt. In seinem Heim wurden Kinder drangsaliert und gequält. Eine Betroffene, die in Scheus Heim zur Kur war, erinnert sich im Gespräch mit "Report Mainz", zur Strafe in der Nacht stundenlang barfuß auf dem kalten Fußboden gestanden zu haben. Einmal sei sie sogar in die Sauna eingesperrt worden.
SS-Generalmajor Hugo Kraas
In St. Peter Ording führte Hugo Kraas in den 70er-Jahren das Kinderkurheim "Seeschloß". Kraas war einer der ranghöchsten Generäle der Waffen-SS, ebenfalls Mitglied in der NSDAP. Ihm wurden zahlreiche Kriegsorden verliehen. Nach Recherchen von "Report Mainz" blieb er bis zu seinem Tod ein überzeugter Nazi. So nahm er etwa 1966 an der Beerdigung des SS-Oberst-Gruppenführers Sepp Dietrich teil, einem verurteilten Kriegsverbrecher. Dort präsentierte er sich mit Ritterkreuz und weiteren NS-Orden. Außerdem war Kraas unter anderem Mitglied in der "Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS" (HIAG), die zeitweise vom Verfassungsschutz als rechtsextremistisch bewertet und beobachtet wurde.
"NS-Arzt" Albert Viethen
Im bayerischen Berchtesgaden war Albert Viethen ärztlicher Leiter des Kinderkurheims "Schönsicht". Darüber hinaus arbeitete er in weiteren Kinderkurheimen. In der NS-Zeit war Viethen Mitglied in rund einem Dutzend NS-Organisationen - von der NSDAP über den NS-Ärztebund bis zur SS. Außerdem war er an Euthanasie-Verbrechen beteiligt. Aus seiner Klinik wurden während der Nazi-Zeit rund 20 Kinder in eine Tötungsanstalt überwiesen. Sieben wurden daraufhin dort nachweislich ermordet. Auch im Kinderkurheim "Schönsicht" wurden Kinder gequält, berichten Betroffene im Gespräch mit "Report Mainz". 1963 wurde Viethen angeklagt wegen Beihilfe zum Mord. Er kommt davon, weil er von den Mordaktionen nichts gewusst haben will. Historiker werten das als unglaubwürdige Ausrede.
Politik verspricht Aufarbeitung
Im Interview mit "Report Mainz" sicherte der Vorsitzende der Sozialministerkonferenz, Manfred Lucha, zu, die jahrzehntelangen und flächendeckenden Misshandlungen während der Kinderkuren aufzuarbeiten. "Wir blicken da in einige Untiefen, in einige dunkle Löcher", so Lucha. Alles, was während der Kuren schlecht und ungesetzlich gewesen sei, müsse aufgearbeitet werden. Schließlich trage der Staat die Verantwortung für den Schutz der Kinder. "Da darf es kein Staatsversagen geben", so Lucha.
https://www.focus.de/familie/
Mehr zum Thema: Montag, 10. August, 22:00 Uhr in der Sendereihe "Exclusiv im Ersten": "Gequält, erniedrigt, drangsaliert. Der Kampf ehemaliger Kurkinder um Aufklärung"
https://www.swr.de/report/presse/
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Abschlussbericht der
Lenkungsausschüsse
der Fonds „Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den
Jahren 1949 bis 1975“ und „Heimerziehung in der DDR in den Jahren
1949 bis 1990"
14.08.2019
Im Rahmen der Aufarbeitung der Heimerziehung in Ost- und Westdeutschland stellte sich die Frage, ob die Arbeiten in den Heimen als Zwangsarbeit einzustufen sind. Für Westdeutschland hat der Runde Tisch dies verneint, da der Begriff durch den Nationalsozialismus geprägt war und die Arbeit in den Heimen nicht der gezielten Existenzvernichtung diente, auch wenn viele Jugendliche die erzwungene Arbeit in den Heimen als „Zwangsarbeit“ empfunden haben. Für die DDR wurde festgestellt, dass die Arbeitserziehung in einer Reihe von Jugendwerkhöfen in die Nähe von Zwangs- und Strafarbeit geriet.
https://www.bmfsfj.de/
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Aufarbeitung
Fonds Heimerziehung
Viele Heimkinder in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR haben schweres Leid und Unrecht erfahren. Daher wurden von 2012 bis 2018 zwei Fonds eingerichtet, um den Betroffenen materielle und therapeutische Hilfen anzubieten. Der Abschlussbericht analysiert die positiven Effekte.
14.08.2019
Viele Menschen, die in Ost- und Westdeutschland in Heimen aufgewachsen sind, erfuhren schweres Leid und Unrecht. Traumatisierende Lebens- und Erziehungsverhältnisse prägten häufig den Heimaufenthalt. Um den Betroffenen zu helfen, haben der Bund, die Länder und die Kirchen die Fonds "Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975" und "Heimerziehung in der DDR in den Jahren 1949 bis 1990" eingerichtet.
Die beiden Fonds Heimerziehung existierten als ergänzende Hilfesysteme für ehemalige Heimkinder von 2012 bis 2018. In dieser Zeit haben mehr als 40.000 Betroffene die angebotene Unterstützung in Anspruch genommen. Insgesamt wurden Hilfen im Wert von 485 Millionen Euro geleistet.
Die Fonds halfen ehemaligen Heimkindern bei der Aufarbeitung ihrer Heimvergangenheit und bei der Abmilderung von Folgeschäden. Die Initiatoren der Fonds haben damit die gemeinsame Verantwortung übernommen für schwerwiegende Versäumnisse und Fehler in der Vergangenheit, unter denen Kinder und Jugendliche gelitten haben.
Abschlussbericht zeigt positive Effekte der Fonds
Zum Laufzeit-Ende der Fonds ist ein Abschlussbericht verfasst worden. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Ziele der Fonds im Wesentlichen erreicht wurden. Sie lauten:
Folgeschäden abmildern
für Genugtuung und Befriedung sorgen
Rechtsfrieden herstellen
In einer Befragung für die Evaluation der Fonds gaben mehr als 80 Prozent der Betroffenen an, zufrieden gewesen zu sein mit deren Angeboten und Leistungen. Der Abschlussbericht liefert darüber hinaus wichtige Hinweise für die Gegenwart und Zukunft, unter anderem für die Gestaltung der heutigen und künftigen Heimerziehung. Der Bericht betont in den Schlussfolgerungen die Bedeutung einer effizienten Kontrolle der Heime sowie die Bedeutung von wirkungsvollen Beteiligungs- und Beschwerdemöglichkeiten für Kinder und Jugendliche. Damit greifen die Schlussfolgerungen Anliegen des Bundesfamilienministeriums auf, die auch bei der geplanten Reform der Kinder und Jugendhilfe verfolgt werden.
Die Lenkungsausschüsse der Fonds Heimerziehung
Am Abschlussbericht waren Mitglieder der Lenkungsausschüsse der Fonds Heimerziehung beteiligt. Die Lenkungsausschüsse bestanden aus Vertreterinnen und Vertretern des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (Fonds West) und das Bundeswirtschaftsministerium sowie dem Ostbeauftragten beziehungsweise der Ostbeauftragten der Bundesregierung (Fonds DDR).
Stellungnahme zum Abschlussbericht
Die Bundesregierung hat in der Kabinettsitzung am 14. August 2019 die von der Bundesfamilienministerin vorgelegte Stellungnahme zu dem Abschlussbericht der Lenkungsausschüsse der Fonds Heimerziehung beschlossen und den Abschlussbericht selbst zur Kenntnis genommen.
Die Stellungnahme gliedert sich in einen allgemeinen und einen spezifischen Teil. Der allgemeine Teil ordnet die Fonds in den Prozess der politisch-parlamentarischen Aufarbeitung der Heimerziehung ein, der seit 2006 läuft. Er hebt außerdem hervor, dass die Fonds ihre Ziele bei der großen Mehrheit der Betroffenen erreicht haben.
Der spezielle Teil der Stellungnahme widmet sich den Bewertungen und Empfehlungen im Abschlussbericht. Er greift dabei sechs Aspekte auf:
1. Die Bedeutung einer zielgruppenorientierten Beratung für frühere Heimkinder
2. die Bedeutung, Aktenzugänge und Möglichkeiten der juristischen Aufarbeitung zu erhalten
3. Schlussfolgerungen für die heutige und künftige Heimerziehung
4. Öffentlichkeitsarbeit, damit die Erinnerung an die Geschichte der Heimerziehung wachgehalten wird
5. Schlussfolgerungen für vergleichbare Hilfesysteme, unter anderem mit Blick auf die angestrebte Verstetigung des Fonds Sexueller Missbrauch
6. Zusammenarbeit mit den Betroffenen
Weiterhin vorhandene Beratungsangebote
Die Möglichkeit, finanzielle Leistungen aus dem Fonds in Anspruch zu nehmen, ist seit dem 31.Dezember 2018 zwar beendet. In vielen Bundesländern können sich ehemalige Heimkinder aber weiterhin beraten lassen.
https://www.bmfsfj.de/
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Entwurf einer Stellungnahme der Bundesregierung zum Abschlussbericht der
Lenkungsausschüsse der Fonds „Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in
den Jahren 1949 bis 1975“ und „Heimerziehung in der DDR in den Jahren 1949 bis
1990“
Dr. Franziska Giffey
Bundesministerin
Berlin, 11. Juli 2019
Im Rahmen der Aufarbeitung der Heimerziehung in Ost- und Westdeutschland stellte sich die Frage, ob die Arbeiten in den Heimen als Zwangsarbeit einzustufen sind. Für Westdeutschland hat der Runde Tisch dies verneint, da der Begriff durch den Nationalsozialismus geprägt war und die Arbeit in den Heimen nicht der gezielten Existenzvernichtung diente, auch wenn viele Jugendliche die erzwungene Arbeit in den Heimen als „Zwangsarbeit“ empfunden haben. Für die DDR wurde festgestellt, dass die Arbeitserziehung in einer Reihe von Jugendwerkhöfen in die Nähe von Zwangs- und Strafarbeit geriet.
https://www.bmfsfj.de/
Aufarbeitungen von Heimerziehungserfahrungen
nach 1945
Aus dem Fachbereich FB 01 Humanwissenschaften
IV. Institut für Sozialwesen der Universität Kassel
im Masterstudiengang „Soziale Arbeit und Lebenslauf“
BAND I: HAUPTTEIL
Wintersemester 2013/2014 und Sommersemester 2014
Masterarbeit für die Prüfung zum Erwerb des
Akademischen Grades „Master of Arts (M.A.)”
Graue Literatur
Masterarbeit eingereicht von: Bernd Michael Uhl || 117 Seiten || 1,067 MB
Seckach, Datum: 18.08.2014
Erstgutachterin: Dr. Sigrid James
Zweitgutachter: Dr. Hans-Jürgen Glinka
"Wie man durch Misshandlung ein besserer Mensch wird ?"
WENSIERSKI, Peter (2006): Schläge im Namen des Herrn: Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik, München: DVA. S. 116.
AUSZÜGE:
Seite 19:
Teilweise wurden schon Gelände im Kaiserreich erschlossen und Gebäude für die Fremdunterbringung genutzt und diese wiesen dann die traditionelle Nutzung für die Fremdunterbringung auch weiterhin über die Weimarer Republik, über das NS-Regime bis in hinein die Bundesrepublik auf. WENSIERSKI berichtet von der personellen Kontinuität des Heimerziehungspersonals vor und nach 1945, an dem der Entnazifizierungsprozess vorüber gegangen und was an sprachlichen Ausdrücken gegenüber den Zöglingen deutlich erkennbar sei. 107 Aber auch von einer Kontinuität der Erziehungsvorstellungen: „Dabei exekutierten Heimleiter und Erzieher nach 1945 zunächst wenig verändert und unreflektiert eine um die Jahrhundertwende ausgeklügelte und vom NS-Regime menschenverachtend fortentwickelte Straf- und Besserungspädagogik.“108 Die Leiterin des geschlossenen Mädchenheims in Guxhagen bei Kassel hatte beispielsweise ihr Volkspflegegerinnen und Fürsorgerinnen-Examen in der Nazizeit abgelegt.109 WENSIERSKI erläutert, wie beispielsweise Heimpersonal im Erziehungsdienst konfessioneller Träger in den 1950er Jahren gegenüber dem Sozialministerium dagegen protestierte, dass die von den Nazis während der Kriegszeit eingeführte Strafordnung zurückgenommen und entschärft werden sollte.110 Die Frauen im kirchlichen Heimerziehungsdienst wollten in ihrem Drang der Aufrechterhaltung von Zucht und Ordnung nicht wieder zur Handlungsvorgabe der Heimerziehung um die Jahrhundertwende zurück, nach der Züchtigung nur in Grenzen erlaubt war und nunmehr zudem dokumentiert und extern überprüft werden sollte.
FENNER thematisiert in seinem geschichtlichen Überblick einerseits Statik und Kontinuitäten mit Verfestigung, mit Tradierung von Ordnungs- und Erziehungsvorstellungen sowie andererseits Dynamik und Diskontinuitäten mit Heimrevolten und Reformen innerhalb von Entwicklungsphasen. Demnach war und ist im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang gemäß FENNER die Fremdunterbringung in Heimen ein Indikator für gesellschaftliche Entwicklungen.111 Ordnungs- und
107 Vgl. WENSIERSKI 2006, S. 54, S. 56.
108 Vgl. Ebda., S. 42.
109 Vgl. Ebda., S. 170.
110 Vgl. Ebda., S. 64f.
111 Vgl. FENNER 1991, S. 11f.
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Erziehungsvorstellungen aus dem Kaiserreich und der Weimarer Republik112 sowie aus dem NS-Regime113 wirkten in der Heimerziehung der BRD zunächst fort. Demnach wurde in den ersten Jahrzehnten der Nachkriegszeit noch am Typus der autoritären Heimerziehung trotz der in der Gesellschaft fortschreitenden Demokratisierungsprozesse festgehalten.
113 Vgl. LWV HESSEN 2013a. Vgl. BERESWILL, HÖYNCK, WAGELS 2013, S. 63f.
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Der Aspekt einer Zwangsassimilierung in der Vermischung mit demografiepolitischen Interessen ist auch in der deutschen Geschichte zu benennen, wie die im NS-Regime praktizierte Zwangsgermanisierung als rassistischer Aspekt in der Fremdunterbringung und in der Heimerziehung aufzeigt.186 Im Jugendamtsauftrag bereisten dazu Schwestern der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) die besetzten Gebiete und etablierten „Mütterheime und Kinderkrippen für die Sprößlinge der Besatzungsarmee“ und „Auffanglager für die dem Feind gestohlenen Kinder.“187 Jugendämter in den besetzten Ostgebieten übernahmen die der Vorselektion für die Rasseuntersuchungen des Rasse- und Siedlungshauptamtes (RuSHA) der SS, bei der Mütter angewiesen wurden, ihre
186 Vgl. UHL 2009a, S.16f.
187 Vgl. HILLEL, Marc; HENRY, Clarissa (1975): Lebensborn e.V. Im Namen der Rasse, Wien; Hamburg: Zsolnay, 1975, S. 237.
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Kinder zur Abgabe zum Stadtjugendamt zu bringen.188 Auf Anordnung der Schutzstaffel (SS) betrieben Jugendämter bei der Durchführung von Terror und Unterdrückung im rassischen und psychologischen Ausleseverfahren die Erfassung von Kindern in polnischen Waisenhäusern und bei polnischen Pflegeeltern, die dann im weiteren Germanisierungsprozess als „wertvolle Blutsträger für das Deutschtum“ in Pflegeheime und Pflegefamilien ins Reichsgebiet verbracht wurden.189
188 Vgl. Ebda., S. 242, S. 245f.mm.org/wlc/en/article.php?ModuleId=10007079
189 Vgl. Ebda., S. 224: Streng geheime Anordnung Nr. 67/1 (Winter 1941), gezeichnet von Ulrich
Greifelt, SS-Gruppenführer und Chef des Staatshauptamtes SS und SD in Polen: Vorgang:
Eindeutschung von Kindern aus polnischen Familien und aus ehedem polnischen Waisenhäusern.
In ehedem polnischen Waisenhäusern und bei polnischen Pflegeeltern befindet sich eine große
Anzahl Kinder, die auf Grund ihres rassischen Erscheinungsbildes als Kinder nordischer Eltern
angesehen werden müssen ... Damit die Eltern, deren rassisches Erscheinungsbild auf nordische
Eltern schließen läßt, dem Deutschtum wieder zugeführt werden können, ist es nötig, daß die in
ehedem polnischen Waisenhäusern und bei polnischen Pflegeeltern befindlichen Waisenkinder
einem rassischen und psychologischen Ausleseverfahren unterzogen werden. Die als wertvolle
Blutsträger für das Deutschtum erkannten Kinder sollen eingedeutscht werden. Die auf Grund des
rassischen und psychologischen Ausleseverfahrens als eindeutschungsfähig bezeichneten Kinder
werden deshalb im Alter von sechs bis zwölf Jahren in Heimschulen und im Alter von zwei bis
sechs Jahren in vom Lebensborn e. V. nachzuweisenden Familien untergebracht. Zur
Durchführung dieser Aktion ordne ich deshalb im Einvernehmen mit den beteiligten Dienststellen
an: I. 1. Die Jugendämter des Reichsgaues Wartheland erfassen die in ehedem polnischen
Waisenhäusern und bei polnischen Pflegeeltern lebenden Kinder und melden diese dem
Reichsstatthalter des Reichsgaues Wartheland (Gauselbstverwaltung)... || Vgl. United States
Holocaust Memorial Museum: Subsequent Nuremberg Proceedings, Case #8, The RuSHA Case,
United States v. Ulrich Griefelt, et al. URL:
http://www.ushmm.org/wlc/en/article.php?ModuleId=10007079
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Zusammenfassend sind hier als Kontinuitäten über die historischen Entwicklungen der verschiedenen deutschen politisch-administrativen Systeme hinweg m. E. einige Aspekte erkennbar. Dazu zählen autoritäre Ordnungs- und Erziehungsvorstellungen als Diskriminierungsinstrumente in totalen Institutionen von Heimerziehung für Kinder- und Jugendliche. Reformbestrebungen für die Heimunterbringung sind in allen deutschen historischen Systemen zu erkennen, sie unterscheiden sich letztendlich in ihren jeweiligen Umsetzungen und Auswirkungen. WENSIERSKI weist, darauf hin, dass Menschenrechtsverletzungen in der DDR Heimerziehungspraxis offensichtlicher vorhanden waren, aber in der BRD ebenso vorherrschten.192 Im internationalen Vergleich verschiedener länderspezifischen Heimerziehungspraxen ist zu erkennen, dass bis ins späte 20. Jahrhundert die vollstationäre Fremdunterbringung im Heimkontext als ein Mittel der Unterdrückung, Disziplinierung und Umerziehung für bestimmte soziale Gruppierungen eingesetzt wird, die von den herrschenden Vorstellungen abweichen. Es fällt hier auf, dass unabhängig vom politisch-administrativen System einer demokratischen oder einer totalitär-autokratischen Staatsform Erziehungs- und Ordnungsvorstellungen
192 Vgl. WENSIERSKI 2006, S. 10f.
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aus der Gesellschaft in den jeweiligen Heimerziehungen wirken, während in den totalitären Systemen die (Um-)erziehung im Rahmen der Heimerziehung jeweils unter einer spezifischen herrschenden Ideologie, wie Nationalsozialismus, Kommunismus offensichtlicher ausgerichtet wird. Hier wird im Ländervergleich klar, dass die Heimkinderdebatten und die Missstände in Heimeinrichtungen in Deutschland nicht verkürzt mit dem Phänomen der zwei totalitären Staaten (NS-Regime und DDR) begründet werden können, wie ein allein stehender historischer Exkurs zur deutschen Heimerziehung vermuten lassen könnte. Es ergibt sich hier eher die Erkenntnis, dass im gesellschaftspolitischen Zeitgeist der westlichen Industrienationen und demokratischen Rechtsstaaten bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein eine diskriminierende, ausbeuterische und totalitäre Heimunterbringung, letztendlich als staatliches Unrecht, weit verbreitet ist. Alle hier betrachteten Nationen haben somit eine Geschichte von historischem Unrecht in ihren Heimerziehungspraxen.
Aufarbeitungen von Heimerziehungserfahrungen
nach 1945
Aus dem Fachbereich FB 01 Humanwissenschaften
IV. Institut für Sozialwesen der Universität Kassel
Masterstudiengang „Soziale Arbeit und Lebenslauf“
BAND II: ANHANG
Wintersemester 2013/2014 und Sommersemester 2014
Masterarbeit für die Prüfung zum Erwerb des
Akademischen Grades „Master of Arts (M.A.)”
Graue Literatur
Masterarbeit eingereicht von: Bernd Michael Uhl || 117 Seiten || 1,110 MB
Seckach, Datum: 18.08.2014
Erstgutachterin: Dr. Sigrid James
Zweitgutachter: Dr. Hans-Jürgen Glinka
Pressemitteilungen
Mitteilungen 2017
Keine rentenrechtlichen Beitragszeiten für ehemalige Heimkinder wegen „Zwangsarbeit“
Die heute 63jährige Klägerin war von 1964 bis 1971 im Kinderasyl Gundelfingen a.d. Donau untergebracht. Im Jahr 2013 beantragte sie bei der beklagten Deutschen Rentenversicherung Bund die Klärung ihres Versicherungskontos für diesen Zeitraum. Sie habe im Heim „Zwangsarbeit“ im Sinne eines faktischen Beschäftigungsverhältnisses geleistet, was nicht als bloße erzieherische Maßnahme bewertet werden könne. Sie habe im Rahmen einer 6-Tage-Woche täglich 6-8 Stunden in der anstaltsinternen Hauswirtschaft und in der Wäscherei/Schneiderei gearbeitet. Als Gegenleistung habe sie vom Heim Kost/Logis, Bekleidung, geringe DM-Beträge und Gegenstände des täglichen Gebrauchs erhalten. Das Heim habe sich dadurch Personalkosten erspart und Einnahmen aus der Vermittlung an Fremdbetriebe erzielt.
Die Rentenversicherung hat die Anerkennung von Beitragszeiten unter Hinweis auf die Rechtslage abgelehnt. Die Berücksichtigung von Versicherungszeiten ohne ein echtes versicherungspflichtiges Lehr- oder Beschäftigungsverhältnis sei nicht möglich. Unter Zwang geleistete Arbeit von Heimkindern könne nicht als Beitragszeit in der Rentenversicherung anerkannt werden. Beiträge seien vom Heim nicht gezahlt worden. Um einen Ausgleich für ehemalige Heimkinder zu schaffen, sei der „Fonds Heimerziehung“ geschaffen worden.
Widerspruch und Klage der Klägerin vor dem Sozialgericht Karlsruhe sind erfolglos geblieben.
Die Richterinnen und Richter des Landessozialgerichts Baden-Württemberg haben der Deutschen Rentenversicherung Recht gegeben, aber auch auf die rechtspolitische Bedeutung des Falles hingewiesen.
Es ist zwar glaubhaft, dass die Klägerin zu verschiedenen Arbeiten herangezogen worden ist, wenn auch der genaue Umfang auch unter Berücksichtigung von bereits bestehenden Beweiserleichterungen nicht mehr aufklärbar ist (Anfragen der Gerichte beim Kinderheim Gundelfingen, beim Landkreis Neu-Ulm, bei der Regierung Oberschwabens, dem Bistum Augsburg hatten keine weitere Klärung erbracht). Weder hat aber nach damaligem Recht eine echte versicherungspflichtige Beschäftigung vorgelegen, noch hat es Beitragszahlungen des Heimes gegeben, noch ist ein Arbeitsverhältnis vereinbart worden. Nach damaliger Anschauung war das Prinzip der Erziehung durch Arbeit vorherrschend. Heimkinder standen nicht in einem auf den freien Austausch von Arbeit und Lohn gerichteten Verhältnis. Was die Klägerin im Rahmen ihrer Unterbringung erhalten hat (Kost/Logis, Bekleidung, Taschengeld), stellt sich daher nicht als (beitragspflichtiges) Arbeitsentgelt dar. Ob das Kinderasyl Gundelfingen seinerzeit Personal eingespart oder die Arbeit der Klägerin gewerblich für Dritte genutzt hat, war nicht aufklärbar, hätte aber auch nicht zur Versicherungspflicht geführt.
Der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages hat zwar im Jahr 2008 hinsichtlich der Möglichkeit der Beitragsnachentrichtung für Arbeit während der Heimunterbringung ein Tätigwerden des Gesetzgebers angeregt. Auch der Runde Tisch Heimerziehung hat in seinem Abschlussbericht die Frage von Rentenansprüchen aufgrund nicht gezahlter Sozialversicherungsbeiträge thematisiert. Inwieweit die zum 01.01.2017 geschaffene Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ die vom Petitionsausschuss angeregten Maßnahmen umgesetzt oder Schäden finanziell ausgeglichen hat, hatte der Senat vorliegend nicht zu prüfen, da nach der Gesetzeslage zu entscheiden war. Danach war es dem Senat verwehrt, die von der Klägerin geltend gemachten Zeiten als weitere Beitragszeiten in ihrem Versicherungsverlauf/Versicherungskonto feststellen. Eine rentenrechtliche Berücksichtigung dieser Zeiten ist nach der gegebenen Rechtslage nicht möglich und ist damit Sache des Gesetzgebers.
Sozialgesetzbuch Sechstes Buch – Gesetzliche Rentenversicherung
SGB VI
§ 54 SGB VI
(1) Rentenrechtliche Zeiten sind
1. Beitragszeiten,
a) als Zeiten mit vollwertigen Beiträgen,
b) als beitragsgeminderte Zeiten,
2. beitragsfreie Zeiten und
3. Berücksichtigungszeiten.
Dr. Steffen Luik
Richter am Landessozialgericht
- Pressesprecher -
https://amtsgericht-mosbach.justiz-bw.de/
Blackbox Heim
Wie der Staat behinderte Kinder im Stich lässt
Eingesperrt, isoliert, fixiert: Nach Informationen von BR Recherche sind Kinder mit geistiger Behinderung in bayerischen Heimen freiheitsbeschränkenden Maßnahmen ausgesetzt. Jetzt reagiert auch die Politik.
Von: Christiane Hawranek, Lisa Wreschniok (BR Recherche), Michael Kubitza (BR24)
Stand: 08.04.2016 | Archiv |Bildnachweis
Eine Kleinigkeit genügt, um eine Krise auszulösen. Dann liegt der 17-jährige Leon am Boden, schreit, schlägt um sich. Der Sohn von Sabine Richard ist schwer behindert, ein Autist. Irgendwann entscheidet die Mutter schweren Herzens, ihn ins Heim zu geben. In mehreren Einrichtungen stellt sie ihren Sohn vor. Überall wurde sie gefragt: Stimmen Sie zu, dass wir Ihren Sohn einsperren?
"Das war für mich total verstörend. Die können doch nicht die Kinder in die Zimmer einsperren! Das Argument ist: Das brauchen die Kinder zu ihrem Schutz. Das kann auch mal sein, aber nicht in der Masse."
Sabine Richard, Mutter eines behinderten Jungen
Ohne Unterschrift kein Heimplatz?
Sabine Richard - die wie ihr Sohn in Wirklichkeit anders heißt - hat mit sich gerungen, ob sie an die Öffentlichkeit gehen soll. Sie weiß, der Job der Betreuer ist hart. Sie bieten ihrem Sohn den immergleichen strukturierten Alltag, der im Familienleben unmöglich ist. Was ihr aber schlaflose Nächte bereitet hat: Sie hat zugestimmt, dass ihr Sohn eingesperrt werden darf, wenn er aggressiv wird. Sabine Richard fühlte sich unter Druck gesetzt: Ohne Unterschrift kein Heimplatz.
Kann das sein? Das Heim beantwortet diese Frage des BR nicht. Der Sprecher eines anderen Heims bestätigt im Interview mit BR Recherche:
"Wenn Eltern das nicht möchten, diese Maßnahmen aber unbedingt nötig sind, müssen wir schon überlegen, ob wir die richtige Einrichtung sind."
Heimsprecher der Diakonie Neuendettelsau
Blackbox Kinderheim
Um welche "freiheitsbeschränkenden Maßnahmen" - so das Amtsdeutsch - geht es?
Was ist erlaubt, was wird in Bayern tatsächlich angewandt?
Zimmerpause, Nachteinschluss und Time-Out-Raum
ELT - Einschluss laut Tagesplan - steht in den Protokollen eines Heims. Bis zu 16 Mal am Tag, dazu die ganze Nacht wird ein Junge in seinem Zimmer eingesperrt. Die Maßnahme gilt laut Heimleitung der "Beruhigung, Entspannung und Erholung" etwa bei Kindern mit Unruhezuständen und agressiven Tendenzen. Dazu kommt die anlassgebundene und kurzfristige Verbringung der Kinder in sogenannte Time-Out-Räume.
Spezialbetten und Fixierungen
Oft sollen Zelthimmel über den Betten zur Beruhigung beitragen. Klappt das nicht, werden in der nächsten Eskalationsstufe Spezialbetten eingesetzt - käfigartige Konstruktionen, mitunter auch bloße Sperrholzverschläge mit Luftlöchern. Im Prinzip sollen die Kastenbetten von den Kindern zu öffnen sein - in der Praxis sind sie es oft nicht. Manche Kinder werden zum Einschlafen in ihren Betten fixiert, andere tagsüber auf Stühlen.
In einem Fall, den BR Recherche im Sommer 2015 aufdeckte, ermittelt die Staatsanwaltschaft. Doch es geht nicht nur um Einzel- und Extremfälle.
Eine offizielle Statistik über freiheitsbeschränkende Maßnahmen gibt es in Bayern nicht. Diese Recherchen in Zusammenarbeit mit der Wochenzeitung "DIE ZEIT" legen nahe, dass in bayerischen Heimen Kinder immer wieder eingesperrt werden. Eine Umfrage unter Heimen bestätigt den Verdacht.
Nur 21 von 30 befragten Heimen antworten. Drei geben an, auf freiheitsbeschränkende Maßnahmen zu verzichten. 18 behalten sie sich vor. Die Heime rechtfertigen sich - es gehe um Deeskalation in Extremsituationen. Alle betonen, dass sie Freiheitsentzug nur in Einzelfällen anwenden, in Abstimmung mit den Eltern und nach Abwägung aller Alternativen.
Was das bedeuten kann, zeigen Schilderungen von Eltern behinderter Heimkinder, dem Pflegepersonal und weitere Dokumente, die BR Recherche vorliegen. Drei Beispiele.
Berichte aus bayerischen Kinderheimen
Nächtlich Einschluss im Dunkeln
Eingepfercht in der "Pferdebox"
Eimer statt Toilette
Das Sozialministerium kennt Zustände in den Heimen nicht
Erstaunlich: Das Bayerische Sozialministerium bestreitet zunächst, dass Kinder oder Jugendliche mit geistiger Behinderung in bayerischen Einrichtungen eingesperrt werden. In der Antwort auf eine schriftliche Anfrage der SPD-Landtagsabgeordneten Alexandra Hiersemann, die BR Recherche vorliegt, heißt es wörtlich:
"Kinder oder Jugendliche mit Behinderung werden nicht in Zimmern oder Time-Out-Räumen eingesperrt. Die Herausnahme eines Kindes aus der Gruppe oder das Verbringen in eine reizarme Umgebung, das kann das eigene Zimmer oder ein sogenannter Time-Out-Raum sein, dient etwa bei stark erethischem Verhalten (motorische Unruhe, leichte Erregbarkeit) zur Beruhigung. Die Zimmer werden dabei nicht abgesperrt."
Antwort Bayerisches Sozialministerium
Die vielen Schilderungen von Eltern behinderter Kinder im Heim und zahlreiche Dokumente, die BR Recherche vorliegen, belegen das Gegenteil. Zimmereinschluss, Fixierung, Time-Out-Raum - all das ist Realität in vielen bayerischen Heimen. Und das hat jetzt auch die Politik aufgeschreckt.
Ministerin Müller kündigt Überprüfung der Heime an
Am Donnerstag ist Sozialministerin Emilia Müller zurückgerudert:
"Wir haben das Ganze jetzt revidiert, weil wir wissen dass es das gibt. Es ist notwendig, darüber zu reden, das aufzuklären und dort, wo notwendig, eine Veränderung herbei zu führen. Wir haben Ihre Recherche zur Grundlage genommen, um alles aufzuklären."
Bayerische Sozialministerin Emilia Müller
Jetzt hat die Ministerin eine große Überprüfung von 104 bayerischen Heimen für behinderte Kinder angekündigt. Das hätte schon längst passieren sollen, kritisiert Kerstin Celina, die sozialpolitische Sprecherin der Grünen im Bayerischen Landtag. Sie fordert ein Zwangsmaßnahmen-Register, damit das Einsperren der Kinder nicht mehr im Verborgenen stattfindet, sondern transparent gemacht werden muss.
"Ich bin der Meinung, dass die Staatsregierung das Thema seit vielen Jahren vernachlässigt und auch nicht sehen will."
Kerstin Celina von den Grünen im Landtag
Ein Problem aber bleibt: Anders als bei Erwachsenen, die unter Betreuung stehen, muss bei Kindern kein Richter diese so genannten "freiheitbeschränkenden Maßnahmen" genehmigen. Es reicht die Zustimmung der Eltern. So hat es der Bundesgerichtshof in einem Urteil von 2013 entschieden.
Die Eltern, heißt es in der Begründung, können dies "in Ausübung elterlichen Sorge selbst genehmigen". Bei Volljährigen, die als nicht einwilligungsfähig gelten, muss jede Form der Freiheitsbeschränkung richterlich genehmigt werden, selbst das Hochfahren des Gitters am Pflegebett. Wie kann es sein, dass die Rechtssituation für Kinder eine völlig andere ist?
Experten schlagen Alarm
Professor Jörg Maywald von der National Coalition Deutschland, die sich für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention einsetzt, warnt vor einer Grauzone, in der Missbrauch Tür und Tor geöffnet sei.
Isabell Götz, Familienrichterin am OLG München und Vorsitzende des Deutschen Familiengerichtstages fordert, den Einsatz freiheitsbeschränkender Maßnahmen auch bei Kindern an eine richterliche Prüfung zu koppeln, so wie es bei unter Betreuung stehenden Erwachsenen der Fall ist. Eltern würde damit auch der Druck der Entscheidung genommen werden und die Einrichtungen müssten sich einer externen Kontrollinstanz stellen.
Das Bundesjustizministerium prüft den Vorschlag, ein neues Gesetz, so heißt es auf Nachfrage des Funkstreifzugs, sei derzeit nicht Sicht. Auch das bayerische Sozialministerium sah bisher keinen Änderungsbedarf.
Sabine Richard fühlt sich allein gelassen. Ihre pauschale Zustimmung zu freiheitbeschränkenden Maßnahmen hat sie zurückgenommen. Sie hat Angst, dass aus dem Ausnahmefall Routine werden kann. Zu schrecklich ist ihr der Gedanke, dass ihr Kind, wenn es Probleme macht, einfach weggesperrt werden kann - ganz legal.
https://www.br.de/
Recherche enthüllt
Brutaler Zwang: So gehen Heime mit geistig behinderten Kindern um
Mittwoch, 06.04.2016, 17:13
Kinder werden zum Einschlafen in ihren Betten fixiert oder tagsüber auf Stühlen. Einige verschwinden täglich stundenlang hinter verschlossenen Türen und schlafen in Sperrholzverschlägen mit Luftlöchern. Was klingt wie Horror aus längst vergangenen Zeiten, scheint in vielen deutschen Kinderheimen bis heute Realität zu sein.
Über mehrere Monate haben Journalisten des „Bayerischen Rundfunks“ und der Wochenzeitung „Die Zeit“ in zahlreichen Kinderheimen recherchiert, mit Betreuern, Experten und Eltern gesprochen. Die Erkenntnis: Insbesondere geistig behinderte Kinder werden in bayerischen Heimen systematisch weggesperrt. Mehr als die Hälfte der 30 größten bayerischen Heime bestätigte, dass sie auf so genannte „freiheitsbeschränkende Maßnahmen“ zurückgreifen.
„Beruhigung, Entspannung und Erholung“ durch Einschließen
Zum Beispiel werde ein Junge in einer Einrichtung in Bayern sechzehn Mal täglich eingesperrt, heißt es in dem Bericht – ganz regulär: Sein Tagesplan sehe diese „Struktur“ vor. Auch die Mahlzeiten erhalte er alleine im Zimmer, von 19.30 Uhr bis 6.10 Uhr sei dann Nachteinschluss. Ein handschriftliches Dokument belegt diesen Ablauf. Laut Heimleitung diene die Maßnahme der „Beruhigung, Entspannung und Erholung“ etwa bei Kindern mit Unruhezuständen und aggressiven Tendenzen.
Der 17-jährige Leon* ist so ein Kind. Er ist Autist und tut sich daher mit sozialer Interaktion schwer. Kleinigkeiten können Leon aus der Bahn werfen. Auch seine Mutter weiß, dass er dann manchmal aggressiv reagiert, sich auf den Boden wirft, schreit, um sich schlägt.
Vielen Autisten hilft es, wenn ihr Alltag sehr strukturiert ist. Wiederkehrende Abläufe geben den Betroffenen Sicherheit und Orientierung. Weil sie Leon im Familienalltag nicht die nötige Struktur habe bieten können, habe seine Mutter sich irgendwann schweren Herzens entschieden, ihn ins Heim zu geben, heißt es beim „BR“.
Ohne Unterschrift kein Heimplatz
Doch dann kam der Schock: In allen Einrichtungen, die sie sich anschaute, sollte sie die Erlaubnis unterschreiben, ihren Sohn einsperren zu dürfen. Ohne Unterschrift kein Heimplatz. „Das war für mich total verstörend“, sagte Leons Mutter den Journalisten. Am Ende stimmte sie trotzdem zu.
Mit ihrer einmaligen Unterschrift besiegelte sie die freiheitsbeschränkenden Maßnahmen für ihren Sohn. Bei Minderjährigen braucht es seit einigen Jahren lediglich die Zustimmung der Eltern, während Erwachsene nur nach richterlicher Genehmigung eingesperrt werden dürfen.
Der „BR“ zitiert dazu die Münchner Richterin Isabell Götz, Vorsitzende des Deutschen Familiengerichtstags. Sie kritisiert die Regelung und fordert eine Gesetzesänderung: „Bei Erwachsenen ist jede Art der Zwangsmaßnahme genehmigungspflichtig. Und ich meine, dass gerade bei Kindern das Gleiche gelten sollte.“
Ermittlungen wegen Freiheitsberaubung
Doch selbst wenn diese Änderung irgendwann durchgesetzt werden kann, bleibt es schwer kontrollierbar, was in den Heimen tatsächlich passiert. Der „BR“ nennt als Beispiel das Kinderheim „Haus Maria“ unter dem Dach des Franziskanerklosters Au am Inn. Es gebe Hinweise, dass dort Kinder ohne Genehmigung eingesperrt würden - teilweise mehr als 22 Stunden am Tag. Schon mindestens zweimal ermittelte die Staatsanwaltschaft im „Haus Maria“ wegen Freiheitsberaubung, mehrfach wurde das Verfahren wieder eingestellt.
Das bayerische Sozialministerium bestritt auf eine schriftliche Anfrage der SPD im Bayerischen Landtag komplett, dass Kinder in bayerischen Heimen eingesperrt werden. Der „BR“ zitiert aus dem Dokument: „Kinder oder Jugendliche mit Behinderung werden nicht in Zimmern oder Time-Out-Räumen eingesperrt.“
Nun reagieren auch die Aufsichtsbehörden
Erst nach Veröffentlichung der Berichte bestellte das Ministerium für den morgigen Donnerstag die Rechtsaufsichtsbehörden ein. Es habe sich jetzt leider herausgestellt, dass beispielsweise so genannte Time-Out-Räume in den Heimen tatsächlich abgeschlossen werden, sagte Staatsministerin Emilia Müller. Dafür wolle sie nun Erklärungen.
Sogar Heimmitarbeiter hatten die Maßnahmen schon vorher gegenüber Journalisten bestätigt. Sie betonten jedoch, dass sie nur in Einzelfällen und Extremsituationen angewendet würden.
Zwangsmaßnahmen sind umstritten - auch bei Experten
Auch in solchen Einzelfällen sind Einschließung und das Fixieren mit Gurten jedoch umstritten. „Nur, wenn es um Leib und Leben geht“, könne man zu solchen Extremmaßnahmen greifen, sagte der Kinder- und Jugendpsychiater Jörg Fegert im „BR“. Das Ziel müsse sein, Zwang zu vermeiden – auch durch höheren Personaleinsatz. In der Praxis ist das allerdings schwer umsetzbar.
Der Job der Betreuer ist hart, das wissen auch Eltern wie Leons Mutter. Ihre Zustimmung zu freiheitbeschränkenden Maßnahmen hat sie dennoch widerrufen, aus Angst, dass die Ausnahme zur Routine werden könnte.
Die Pflicht zur richterlichen Prüfung von Zwangsmaßnahmen – auch bei Kindern – würde zumindest dazu führen, dass die Verantwortung nicht mehr allein bei den Einrichtungen und die Entscheidungslast nicht mehr bei den Eltern läge. Das Bundesjustizministerium prüft diesen Vorschlag nun.
https://www.focus.de/
Behinderte Kinder in Bayern eingesperrt, isoliert und fixiert
Veröffentlicht am Mittwoch, 6. April 2016 von Ottmar Miles-Paul
München (kobinet) Behinderte Kinder hinter verschlossenen Türen - "eingesperrt, isoliert, fixiert." So titelt der Bayerische Rundfunk die Ergebnisse seiner Recherchen im heutigen Tagesthema des Senders, wonach Kinder mit geistiger Behinderung in bayerischen Heimen freiheitsbeschränkenden Maßnahmen ausgesetzt sind. Mit dem Zitat: "Sitze hier im ICE mit Gänsehaut und feuchten Augen" hat der Inklusionsbotschafter Aleksander Knauerhase, der sich u.a. für die Menschenrechte von AutistInnen einsetzt, die kobinet-nachrichten per Twitter auf den erschütternden Bericht aufmerksam gemacht.
Ab 21.00 Uhr sendet das Bayerische Fernsehen heute am 6. April eine Reportage über die Menschenrechtsverletzungen in der Sendung "Kontrovers - Die Story". Zunächst hatte das bayerische Sozialministerium dem Bericht des Bayerischen Rundfunks zufolge "bestritten, dass geistig behinderte Kinder in bayerischen Heimen eingesperrt werden. BR-Recherchen beweisen das Gegenteil. Heute Mittag reagiert die Ministerin, korrigiert die Einschätzung ihres Hauses und mehr noch: Sie bestellt für morgen die Vertreter der Aufsichtsbehörden der Heime zum Rapport ins Ministerium."
https://archiv.kobinet-nachrichten.org/
Link zum Radiobericht und weiteren Informationen des Bayerischen Rundfunks >>>
2.2 Online-Artikel zu "Kinder und Jugendliche in stationären Einrichtungen der baden-württembergischen Nachkriegszeit: Erfahrungen von Leid und Unrecht"
Themenmodul – Heimkindheiten
Kinder und Jugendliche in stationären Einrichtungen der baden-württembergischen Nachkriegszeit: Erfahrungen von Leid und Unrecht
Aus welchen Gründen kamen Kinder ins Heim und welche Auswirkungen hatte dies für ihr weiteres Leben? Wie war der Alltag in den Einrichtungen und warum waren diese für viele Kinder kein Zuhause? Und was wird heute getan, um die damaligen Geschehnisse aufzuarbeiten? Antworten auf diese und andere Fragen finden Sie in den Beiträgen des Moduls. Es enthält Portraits einzelner Einrichtungen, Wissen zum historischen Hintergrund, Berichte von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sowie Übersetzungen in Deutsche Gebärdensprache und in Leichte Sprache.
https://www.leo-bw.de/
Einrichtungen
von Nora Wohlfarth
In den etwa 500 Einrichtungen der Jugendhilfe und den knapp 100 Einrichtungen der Behindertenhilfe sowie den psychiatrischen Kliniken in Baden-Württemberg machten Kinder und Jugendliche in der Nachkriegszeit ganz unterschiedliche Erfahrungen. Vieles hing davon ab, in welcher Einrichtung ein Kind untergebracht war. War es – zumindest nach damaliger Ansicht – die geeignete Einrichtung für das Kind? War sie weit außerhalb gelegen oder gut im Ort eingebunden? Hatte sie einen angemessenen Personalschlüssel oder herrschte Mangel in jeglicher Hinsicht? War es eine große „Anstalt“ oder ein privat geführtes, kleines Heim? Von diesen Faktoren hing in vielerlei Hinsicht ab, was die Kinder und Jugendlichen dort erlebten.
Viele der bekannten Missstände – mehr dazu in den Berichten der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen – erstreckten sich wiederum unterschiedslos über die verschiedenen Einrichtungsformen. Die von Disziplin und Strenge geprägten pädagogischen Vorstellungen veränderten sich – trotz verschiedener Reformansätze nach dem Zweiten Weltkrieg – nur langsam.
An dieser Stelle sollen einige der Einrichtungen in Form von Einrichtungsportraits genauer vorgestellt werden. Sie sind unterschieden nach Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Jugendhilfe, nach psychiatrischen Kliniken für Kinder und Jugendliche und Erholungsheimen [letztere ab etwa Mitte 2022]. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Abgrenzungen nicht immer trennscharf sind. Einerseits wurden oftmals Kinder in für sie ungeeignete Einrichtungen eingewiesen, so dass beispielsweise auch in Einrichtungen der Jugendhilfe Kinder mit Behinderung untergebracht waren, andererseits veränderten viele Einrichtungen über die Jahre ihren Charakter und ihr Angebot. Erholungsheime nahmen beispielsweise in einigen Fällen auch Kinder für einen längeren Zeitraum auf. Die Trennung dient hier daher eher der Orientierung; die detaillierte Beschreibung, welchen Charakter eine Einrichtung hatte, finden Sie im jeweiligen Einrichtungsportrait.
Zitierhinweis: Nora Wohlfarth, Einrichtungen - Einführung, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 25.03.2022.
https://www.leo-bw.de/
| Heimerziehung in Mosbach - Baden nach 1945: Im LEO-BW-Kartenmodul können Sie mit dem Kartenlayer „Heimkindheiten“ gezielt nach Orten und Einrichtungen suchen |
Rahmenbedingungen
von Nora Wohlfarth
Angesichts der zahlreichen Missstände in den verschiedenen Einrichtungen stellt sich die Frage: Wie konnte das passieren? Wie konnte es sein, dass die Kinder dort so schlecht behandelt wurden? Ein Teil der Antwort liegt in den Rahmenbedingungen, wie der Organisation der Heimaufsicht, den pädagogischen Vorstellungen oder den damals geltenden rechtlichen Bedingungen. Daher möchten wir möchten wir in diesem Bereich diesen spezifischen Bedingungen in der Behindertenhilfe, der Jugendhilfe und in den psychiatrischen Einrichtungen für Kinder und Jugendliche nachgehen. Sie können zusammen mit den historischen Hintergründen und dem „Zeitgeist“ Erklärungen liefern. Historische Kontinuitäten aus der Zeit des Nationalsozialismus wirken dabei ebenso wie die Geschlechterrollen der Nachkriegszeit, Rassismus und behindertenfeindliche Einstellungen.
https://www.leo-bw.de/themenmodul/heimkindheiten/rahmenbedingungen
Alltag
von Nadine Seidu und Nora Wohlfarth
Die Vermittlung von Tugenden wie Fleiß, Gehorsam und Disziplin prägten den Alltag vieler Einrichtungen der Jugend- und auch der Behindertenhilfe, besonders in den 1950er und 1960er Jahren. So waren Abläufe klar vorgegeben und ein Tag glich dem anderen. Die Kinder und Jugendlichen sollten auf diese Art an geordnete Strukturen gewöhnt werden. In großen Einrichtungen orientierte sich der Tagesplan fest an der heimeigenen Infrastruktur mit Großküche und Wäscherei.
Nur die Sonntage spielten häufig eine gesonderte Rolle. Das Essen variierte, man machte Ausflüge oder spielte im Hof. Nicht nur in christlichen Einrichtungen musste der Gottesdienst besucht werden. Die Teilnahme an diesen Programmpunkten war oftmals verpflichtend und ließ ebenfalls selten Raum für individuelle Aktivitäten.
Besonders die ständige Aufsicht durch das Heimpersonal war für viele Betroffene sehr belastend. Vom Zähneputzen bis zum spätabendlichen Toilettengang – alle Handlungen wurden kontrolliert. Oft bestimmte das Gefühl des "Alleingelassenseins" das Leben der Kinder, die sich im Heim nicht zuhause fühlten. In Internaten von Gehörlosenschulen stand die Sprachvermittlung im Vordergrund – so sehr, dass es den Kindern verboten war, miteinander zu gebärden.
Es gab jedoch auch Momente des Glücks: Freizeitaktivitäten brachten Freude, es wurden Spieleabende organisiert oder Spaziergänge und Ausflüge unternommen. Die Teilnahme war meist verpflichtend. Für manche waren die Gottesdienste eine Gelegenheit, der Strenge des Heims zu entkommen, andere wiederum litten unter diesem religiösen Zwang. Eine Betroffene berichtete, dass sie die Sonntagspaziergänge als unangenehm empfand, weil sie sich fühlte wie auf dem Präsentierteller. Sie merkte, dass die Heimleitung die Kinder im Dorf vorzeigte. So wurde auch dieser eigentlich schöne Anlass Teil der Erfahrung, als Heimkind nicht dazuzugehören, außerhalb der Gesellschaft zu stehen.
Feste boten eine Möglichkeit, aus dem strikten Alltag auszubrechen. Theaterstücke und Lieder wurden einstudiert, um sie dann an Feiertagen oder Jubiläen aufzuführen. Zum Teil wurden Jahresfeste öffentlichkeitswirksam inszeniert, um Spenden zu sammeln. Auch Ferienfreizeiten standen in vielen Einrichtungen auf dem Programm.
Ein fester Bestandteil des Alltags in stationären Einrichtungen für Kinder und Jugendliche war auch die Gewalt. "Schläge waren an der Tagesordnung", so berichten es viele Betroffene.
Die Gewalt in den Einrichtungen nahm verschiedene Formen an. Körperliche Züchtigung – in der Nachkriegszeit noch lange in gewissen Grenzen rechtlich abgesichert – ist nur eine Ausprägung. Arreststrafen, Essensentzug, Kontaktsperre und Briefzensur waren weit verbreitet. Sehr häufig wird zudem von psychischer Gewalt, Demütigungen und sexualisierter Gewalt berichtet. In Einrichtungen der Behindertenhilfe kam es mehr als in Einrichtungen der Jugendhilfe auch zu medizinischer Gewalt. Da auch Kollektivstrafen üblich waren, wurde Solidarität unter den Kindern und Jugendlichen verhindert. Somit fühlten sich viele im Heim sehr allein, obwohl sie fast immer unter Menschen waren.
Zitierhinweis: Nadine Seidu, Nora Wohlfarth, Alltag - Einführung, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.03.2022.
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Zeugnis ablegen
von Corinna Keunecke
Von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen können wir vieles erfahren, von dem wir auf anderem Wege keine Kenntnis erlangen würden. Sei es, weil entsprechende schriftliche Quellen nicht mehr vorhanden sind, sei es, weil sowohl Abläufe und Routinen des Alltags als auch die in den Einrichtungen ausgeübte Gewalt keinen Niederschlag in Dokumenten und Akten fanden. Man hielt die Vorgänge vielleicht für zu alltäglich, für nicht relevant genug oder wollte sie möglicherweise auch, wie im Falle von ausgeübter Gewalt, bewusst nicht dokumentieren.
Die Berichte von Betroffenen bieten darüber hinaus einen Perspektivwechsel und vermitteln ein eindrückliches Bild der Einrichtungen und Strukturen aus subjektiver Sicht derer, die dort gelebt haben. Sie können das innere Erleben der Kinder und Jugendlichen deutlich machen, etwas, das Akten in nicht gefunden werden kann – auch dann nicht, wenn die entsprechenden Vorgänge, wie zum Beispiel die Züchtigung eines Heimkindes, in einer Akte dokumentiert wären. Die Sicht der Betroffenen, ihre Wahrnehmungen, Ängste und Sorgen sowie ihre Verarbeitungsstrategien haben sich nicht in den Akten niedergeschlagen.
Wir brauchen also Gespräche mit und Berichte von Betroffenen, um das Geschehene besser zu verstehen und um manches überhaupt erst zu erfahren. Die Zeitgeschichte greift immer wieder auf Berichte von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zurück. Es handelt sich hierbei um eine Teildisziplin der Geschichtswissenschaft, die sich mit der jüngsten Vergangenheit beschäftigt. Zeitgeschichte ist die "Geschichte der Mitlebenden", also die Geschichte, die zumindest ein Teil der aktuell lebenden Menschen noch bewusst miterlebt hat.
Die Berichte von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sind heute in der zeitgeschichtlichen Forschung und verwandten wissenschaftlichen Disziplinen, aber auch bei der Vermittlung und Aufarbeitung von Geschichte von besonderer Bedeutung. Sie sind aus dem Geschichtsunterricht, der außerschulischen politischen Bildung, der Museumsarbeit und aus Fernsehsendungen und Internet nicht mehr wegzudenken. Zuhörerinnen und Zuhörer sind von solchen Berichten oft besonders berührt, da diese Geschichte unmittelbar vermitteln. Dieser Effekt tritt insbesondere dann ein, wenn eine persönliche Begegnung möglich ist und wenn sich biographische Gemeinsamkeiten ausmachen lassen.
Oft setzen Berichte sowie Forderungen von Betroffenen eine gesellschaftliche Auseinandersetzung und Aufarbeitung überhaupt erst in Gang. So war es auch im Bereich der bundesdeutschen Heimerziehung der Nachkriegszeit. Anfang der Jahrtausendwende meldeten sich – unter großer Anteilahme der Öffentlichkeit – erstmals in großer Zahl Menschen zu Wort, die als Kinder und Jugendliche in Heimen untergebracht waren. Plötzlich sahen sich die Einrichtungen, die Träger und auch Archive mit Menschen konfrontiert, die die Herausgabe von Akten, oft auch Entschuldigungen, manchmal Entschädigungen verlangten. Ehemalige Heimkinder richteten eine Petition an den Deutschen Bundestag, in deren Folge der „Runde Tisch Heimerziehung“ eingerichtet wurde. Zu den Empfehlungen des Runden Tisches gehörte auch die Errichtung von Beratungsstellen, um Betroffene bei der Stellung von Anträgen an den Fonds Heimerziehung zu unterstützen. Die Berichte der Betroffenen sind auch für eine öffentliche Anerkennung von Leid und Unrecht unerlässlich, wie die Veranstaltung „Zeit, über das Leid zu sprechen“ der Stiftung Anerkennung und Hilfe zeigte. Und aktuell, beginnend ebenfalls etwa 2019, sind es die Ehemaligen aus Erholungsheimen, deren Berichte die gesellschaftliche Diskussion in diesem Bereich anstoßen und entscheiden vorantreiben.
Auch für die Betroffenen selbst kann das öffentliche Berichten und Zeugnis ablegen positive Effekte haben. Oftmals litten sie darunter, dass ihre Erlebnisse und Schilderungen als unglaubwürdig abgetan wurden, sofern sie sich überhaupt trauten, das Erlebte und Erlittene jemandem anzuvertrauen – sei es in der damaligen Situation oder im späteren Leben. Im gemeinsamen, öffentlichen Austausch mit anderen Betroffenen und im Zusammenhang der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Aufarbeitung erfahren sie, dass ihnen Glauben geschenkt wird – und dass sie mit ihren Erlebnissen nicht alleine sind. Im Gegenteil: andere Menschen erlebten und schildern Ähnliches. So wird das Erinnern und Berichten für die Betroffenen im besten Fall zu einer Bestätigung und einer Anerkennung ihres Leids, zu einer Selbstermächtigung und auch einer Befreiung von dem nagenden Gefühl, mit all dem allein zu sein. Nicht verschwiegen werden darf jedoch, dass das Berichten stets viel Überwindung kostet und eine große emotionale Belastung für die Betroffene darstellen kann. Vor diesem Hintergrund danken wir allen Betroffenen, die uns ihre Berichte zur Verfügung gestellt haben und freuen uns, Ihnen hier diesen Raum geben zu dürfen.
Literatur
Bing-von Häfen, Inga, Du bist und bleibst im Regen. Heimerziehung in der Diakonie in den 50er bis 70er Jahren in Oberschwaben, Berlin 2014.
Erbar, Ralph, Zeugen der Zeit? Zeitzeugengespräche in Wissenschaft und Unterricht, in: Geschichte für heute, Jg. 5, Heft 3 (2012), S. 5–20.
Esser, Klaus, Zwischen Albtraum und Dankbarkeit. Ehemalige Heimkinder kommen zu Wort, Freiburg 2011.
Frings, Bernhard/Kaminsky, Uwe, Gehorsam – Ordnung – Religion. Konfessionelle Heimerziehung 1945-1975, Münster 2011.
Hähner-Rombach, Sylvelyn, „Das ist jetzt das erste Mal, dass ich darüber rede…“ Zur Heimgeschichte der Gustav Werner Stiftung zum Bruderhaus und der Haus am Berg gGmbH 1945-1970, Frankfurt am Main 2013.
Sabrow, Martin/Frei, Norbert (Hrsg.), Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, in: Geschichte der Gegenwart, Bd. 4 und Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 14, Göttingen 2012.
Silberzahn-Jandt Gudrun, „… und da gab´s noch ein Tor, das geschlossen war.“ Alltag und Entwicklung in der Anstalt Stetten 1945 bis 1975, Eigenverlag Diakonie Stetten 2018.
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Aufarbeitung
von Nora Wohlfarth
Die Stiftung Anerkennung und Hilfe trägt es im Namen: ein wichtiger Baustein für die Aufarbeitung der Erfahrungen von Leid und Unrecht derjenigen, die Heimkindheiten erleben mussten, ist die Anerkennung dieser Erfahrungen. Dies möchten wir in diesem Themenmodul nicht zuletzt durch die Veröffentlichung von Berichten Betroffener und auch durch die Dokumentation verschiedenster Aspekte der Einrichtungen unterstützen. An dieser Stelle sollen darüber hinaus weitere Aspekte von Aufarbeitung reflektiert werden: Mehrere Texte widmen sich der Frage, was Aufarbeiten im Archiv bedeutet, welchen Beitrag Archive bisher zur Aufarbeitung in Baden-Württemberg geleistet haben und auch, was das sowohl für Mitarbeitende im Archiv als auch für Betroffene bedeutet, die ihre Akte suchen oder erhalten. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Anerkennung von Leid und Unrecht in einem eher praktischen Sinne: Hier geht es um Reflektionen und Überlegungen zur Arbeit der Stiftung Anerkennung und Hilfe sowie des Fonds Heimerziehung, also um deren Versuche, eine Art von Ausgleich zu schaffen für das entstandene Leid. Weitere Aspekte der Aufarbeitung sind die Bemühungen einzelner Einrichtungen zur Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte, die Perspektiven von Betroffenen auf die Aufarbeitung sowie die Konsequenzen für die heutige Arbeit mit Kindern und Jugendlichen.
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2.3 Online-Artikel zur DDR-Heimerziehung
Studie zu DDR-Kinderheimen
Gewalt und Vernachlässigung im Heim
Stand: 20.03.2023 16:28 Uhr
Eine halbe Million Kinder und Jugendliche waren in DDR-Heimen untergebracht. Laut einer Studie unter Federführung der Universität Leipzig wurden knapp 70 Prozent von ihnen körperlich misshandelt. 54 Prozent der Befragten sprachen von sexuellem Missbrauch.Viele ehemalige Bewohner von DDR-Kinderheimen leiden bis heute unter den Folgen von Gewalt und Vernachlässigung. Das ist das Ergebnis einer Studie des Forschungsverbundes "Testimony", der unter Federführung der Universität Leipzig die Erfahrungen Betroffener in vier Teilprojekten untersucht hat.
Misshandlung und Zwangsarbeit in DDR-Jugendeinrichtungen, André Berthold, MDR, tagesthemen 22:15, 20.3.2023 >>>
Demnach geht aus einer Fragebogenstudie mit 273 Teilnehmern hervor, dass 93 Prozent der Befragten körperliche und 95 Prozent emotionale Vernachlässigung erfahren haben. 68 Prozent sprachen demnach von körperlicher Misshandlung, 54 Prozent von sexuellem Missbrauch. "Das sind wahnsinnig hohe Zahlen", sagte Studienleiterin Heide Glaesmer von der Universitätsmedizin Leipzig.Laut Studie berichteten 43 Prozent der Teilnehmer von komplexen posttraumatischen Belastungsstörungen. Jeder Fünfte war in seinem Leben mindestens einmal in Haft. Betroffene litten oft noch heute unter Angst vor staatlichen Institutionen, Behörden und Ärzten, sagte Glaesmer. Andere seien verzweifelt, wenn sich ihre Aufenthalte im Heim angesichts lückenhafter Biografien nicht mehr belegen lassen.
Kinderheim
20.03.2023, Studie: Gewalt in DDR-Kinderheimen testimony-studie.de, Leipziger Erklärung zur Bewältigung und Aufarbeitung von Erfahrungen in DDR-Kinderheimen Zentrale Befunde und Forderungen des " Testimony-Foschungsverbandes". >>>
Furcht vor neuem Heimaufenthalt im AlterTrauer und Wut herrsche bei den Betroffenen, weil sie sich wegen fehlender Bildungs- und Orientierungsmöglichkeiten nicht ausreichend auf ihr Leben vorbereitet fühlten. Nicht zuletzt fürchteten sich viele Befragte vor einem erneuten, fremdbestimmten Heimaufenthalt im Alter."Wichtig ist aber auch, dass es auch Zeitzeugen gibt, die keine negativen Erfahrungen berichtet haben", sagte Glaesmer. Nach Angaben des Forschungsverbundes "Testimony" waren zwischen 1949 und 1990 etwa eine halbe Million Kinder und Jugendliche in Kinderheimen und Jugendwerkhöfen der DDR untergebracht. Ihre Erfahrungen in diesen Einrichtungen, deren Folgen und Bewältigung seien bislang nicht umfassend erforscht gewesen, hieß es.Forscher fordern AufarbeitungDie Forscher der Universität Leipzig, der Medical School Berlin, der Alice Salomon Hochschule Berlin und der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf forderten aufgrund der Ergebnisse in einer "Leipziger Erklärung" weitere Bemühungen um Aufarbeitung.Der Zugang zu Hilfsangeboten müsse niedrigschwelliger gestaltet und ein sensibler Umgang der Behörden mit Trauma-Erfahrungen gewährleistet werden. Eine Wiedergutmachung der in DDR-Heimen gemachten Erfahrungen sei nicht möglich, erklärten die Forscher.
https://www.tagesschau.de/
Eingesperrt, fixiert, gequält: Kinderschicksale in der DDR
Stand: 03.01.2023 14:35 Uhr
Der Dokumentarfilm "Lievalleen" zeigt das Schicksal der Geschwister Beate und Peter. Stellvertretend erzählen sie von den Qualen vieler verwahrter Kinder in der DDR. Späte Hilfen für Betroffene gab es durch die Stiftung "Anerkennung und Hilfe", deren Arbeit Ende 2022 endete.
rmieren", heißt es - auch nachdem die Arbeit der Stiftung "Anerkennung und Hilfe" endet.
Tagelang in Dunkelheit fixiert - Versagen des Sozialstaats DDR
Fixierbetten in einer ehemaligen DDR-Kindereinrichtung.
Eingesperrt, fixiert, gequält: Viele Betroffene berichten heute über katastrophale Zustände in Einrichtungen in der ehemaligen DDR.
Vielen Betroffenen wie Beate Runge konnte vor der Errichtung der Stiftung im Jahr 2017 gar nicht geholfen werden. Burkhard Bley leitete von 2012 bis 2018 die Anlaufstelle für den Nordosten des Fonds "Heimerziehung in der DDR in den Jahren 1949 bis 1990". Schon in den Jahren vor dem Einrichten dieses Fonds meldeten sich immer wieder Menschen im Büro der Landesbeauftragten, für die der Heimkinderfonds gar nicht zuständig war, die aber davon berichteten, sie hätten ihr Kindheit und Jugend ohne jegliche Förderung in Behinderten- und Altenpflegeeinrichtungen oder Psychiatrien verbracht. Unter teils katastrophalen Bedingungen.
"Die erschütterndste Geschichte, die wir gehört haben, ist in einem Behindertenheim aufgefallen", so Bley. Der Leiter, der das Heim übernommen hatte, berichtete, er habe fünf Menschen im Keller gefunden, von denen er nicht hätte sagen können, wie lange sie dort schon vor sich hin vegetierten. "Die waren im Keller angebunden, kein Tageslicht", zitiert Bley den Leiter, "und die waren natürlich erst mal überhaupt nicht ansprechbar. Die mussten das Gehen wieder neu lernen." Im Grunde, so Bley, habe die DDR im Umgang mit den Schwächsten in der Gesellschaft eklatant versagt.
Psychiatrien und Heime: Unterschiede in Ost und West
"DDR-spezifisch ist, dass die Zustände so lange andauerten", sagt Bley. "Bis zum Ende der DDR, bis 1990 hat sich nichts getan, es wurde fast nichts investiert." Auch das Personal in den Einrichtungen habe unter Baumängeln, materieller Not, Überbelegung und mangelnder Qualifikation gelitten. Die Zustände in Kinderheimen ebenso wie in Psychiatrien, sonderpädagogischen Einrichtungen und solchen der Behindertenhilfe seien unmittelbar nach Kriegsende in Ost und West zunächst vergleichbar gewesen. Jahrzehnte später berichten Betroffene über das dort Erlebte, zuletzt auch über Gewalterfahrungen und Misshandlungen im Zuge von Verschickungen. Doch im Gegensatz zur DDR habe es in der alten Bundesrepublik seit spätestens Mitte der 1970er-Jahre Reformen gegeben. Weg von der Hospitalisierung hin zu alternativen Betreuungsformen und Förderung.
Frappierend sei zudem, so Burkhard Bley, dass Kinder wie Beate Runge in der DDR staatlich eingruppiert wurden. "Nicht bildungsfähig": Wer diesen Stempel einmal aufgedrückt bekommen hatte, sei von jeglicher Entwicklungsmöglichkeit ausgeschlossen geblieben.
Lange gab es Hilfen nur für Heimkinder
Während es für Leidtragende der DDR-Heimerziehung - insbesondere in Spezial-Kinderheimen oder Jugendwerkhöfen, in denen Kinder und Jugendliche umerzogen werden sollten - mit dem Fonds Heimerziehung seit 2012 Unterstützung gab, dauerte es noch weitere fünf Jahre, bis die Stiftung Anerkennung und Hilfe ihre Arbeit aufnehmen konnte. Für knapp 100 Betroffene, die bis dahin Hilfe im Büro der Landesbeauftragten für die Aufarbeitung der SED Diktatur in Mecklenburg-Vorpommern gesucht hatten, gab es endlich auch eine Anlaufstelle. "Lange war das ja gar nicht bekannt", so Burkhard Bley. Und auch die wissenschaftliche Aufarbeitung steckte zu diesem Zeitpunkt noch in den Kinderschuhen.
Burkhard Bley, stellvertretender Landesbeauftragter für die Aufarbeitung der SED-Diktatur für Mecklenburg-Vorpommern 4 Min
Burkhard Bley: "Das ist wie ein Verrat"
Burkhard Bley, stellvertretender Landesbeauftragter für die Aufarbeitung der SED-Diktatur für MV, über "Lievalleen" und Hilfen für Betroffene.
Politisch sei vor allem die staatliche Entscheidung gewesen, Kinder nicht adäquat zu fördern.
Zurückgelassene und getrennte Kinder durch Flucht aus DDR
Beate Runge und ihr Bruder Peter Wawerzinek wurden 1957 als Kleinkinder von ihren Eltern allein in Rostock zurückgelassen - die Eltern flohen in den Westen. Vereinzelt habe es solche Fälle vor dem Mauerbau 1961 gegeben, sagt Bley, ebenso wie in den Wochen vor und nach dem Mauerfall im November 1989. "Wir haben es nicht beziffert, das sind vielleicht 20, 30 Fälle", schätzt Bley für das heutige Mecklenburg-Vorpommern. Er weiß aber auch, dass insbesondere Geschwister, die wegen Vernachlässigung oder Kindeswohlgefährdung in der DDR aus den Familien genommen wurden, oft getrennt wurden. "Verwandtschaftliche Bindungen spielten in der Heimerziehung keine Rolle", das habe schwerwiegende Folgen gehabt. In vielen Fällen sei es dann gelungen, den Kontakt zwischen Geschwistern nach Jahrzehnten wieder herzustellen.
"Begegnungen, die sonst nie zustande gekommen wären"
Beate wuchs in der Psychiatrie auf, glaubte ihre Mutter sei tot. © NDR
Nach einer Kindheit in der Psychiatrie kommt es Beate Runge Jahrzehnte später wie ein Märchen vor, dass sie noch Geschwister hat.
Der Schriftsteller Peter Wawerzinek, der als Kind von einem Lehrerpaar adoptiert worden war, hat später seiner Schwester geholfen, lesen und schreiben zu lernen. Ihre gemeinsame Halbschwester Antje Jurgeleit haben die beiden erst im Zuge der Dreharbeiten zu "Lievalleen" kennengelernt. Sie hat den gleichen Vater wie die beiden in der DDR zurückgelassenen Geschwister. 2021 hat Runge mit ihr zusammen noch ein weiteres Mal das Krankenhaus ihrer Kindheit besucht, Jurgeleit zeigte sich dabei erschüttert: "Ich hab keine Vorstellung davon, wie schlimm das ist."
Für Wawerzinek hat sich der Film "Lievalleen" allein aus diesem Grund gelohnt: "dass durch den Film Begegnungen stattfinden, die sonst nie zustande gekommen wären." Und Beate Runge, die bis zu ihrem 18. Geburtstag in der Psychiatrie eingesperrt war, kommt es wie ein Märchen vor, dass sie doch Geschwister hat.
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Wie Jugendliche in der DDR-Psychiatrie litten
Sendedatum: 25.02.2018 19:30 Uhr
von Rebekka Bahr
Sein halbes Leben war Axel Niebel weggesperrt. Den größten Teil seiner Kindheit und Jugend verbrachte er in drei Kinderheimen, zwei geschlossenen Psychiatrieabteilungen im Vogtland und in Stralsund und später in einem Pflegeheim für Behinderte - obwohl er kein Pflegefall war. Lern- und Anpassungsschwierigkeiten nach einem Sturz aus einem Fenster im vierten Stock wurden dem Heimkind Axel zum Verhängnis. "Heute kriegst du Nachhilfeunterricht, einen Pädagogen an die Hand. Ich hab' eben Pech gehabt und kam in die Psychiatrie", sagt Axel und lacht verhalten.
"Wer glaubt schon einem Idioten?"
Kein Schulunterricht mehr nach der 6. Klassenstufe, keine Therapie, stattdessen prägten Gewalt, Gehorsam und Arbeit fortan seinen Alltag. Er erinnert sich, wie ein Pfleger ihn an den Haaren durch den Flur schleifte, sodass Büschel davon auf dem Boden lagen. Er sammelte sie auf, steckte sie in eine Tüte als Beweis für die Misshandlung. "Aber gegen ein Personal aus der Psychiatrie? Wer glaubt einem Idioten aus der Psychiatrie?"
Patienten wurden ohne rechtliche Grundlage fixiert
Ein altes Netzbett aus DDR-Zeiten steht im Keller des Stralsunder Hanseklinikums. © NDR
In solchen Netzbetten wurden viele Betroffene zu Unrecht fixiert.
Der Psychiater Jan Armbruster, der seit vielen Jahren zur Geschichte der Psychiatrie in Stralsund forscht, weiß, dass viele ehemalige Patienten bis heute Angst davor haben, über ihre Erlebnisse zu berichten, erst recht gegenüber einem Psychiater. Im Keller des Stralsunder Hanseklinikums steht noch ein altes Netzbett. In einem solchen Bett wurde auch Axel Niebel in den 80er-Jahren fixiert. Ohne jede rechtliche Grundlage. "Ich weiß auch nicht, wie ich das ausgehalten habe", sagt er.
Stiftung hilft Betroffenen
Anne Drescher, die Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Mecklenburg-Vorpommern, kennt mittlerweile jede Menge solcher Berichte. In ihrer Geschäftsstelle ist seit Januar 2017 eine Anlauf- und Beratungsstelle der Stiftung "Anerkennung und Hilfe" angesiedelt. Sie soll erlittenes Unrecht und Leid anerkennen, wissenschaftlich und öffentlich aufarbeiten und durch finanzielle Hilfe zumindest abmildern.
"Gerade diese so unfassbare Geschichte mit dem Netzbett wird uns in vielen, vielen Gesprächen erzählt. Viele Kinder und Jugendliche - man muss sich vorstellen: das waren Minderjährige - mussten solche Zwangsmaßnahmen in verschiedenen Einrichtungen erleben." In den Anlauf- und Beratungsstellen der Stiftung können sich Betroffene, die als Kinder und Jugendliche in Behindertenheimen und Psychiatrien Schlimmes erlebt haben, noch bis zum 31. Dezember 2019 melden.
Bislang haben das in Mecklenburg-Vorpommern rund 200 Menschen getan. Die meisten sind nicht mobil, müssen in Pflegeeinrichtungen und Kliniken aufgesucht werden. Sie erleben erstmals in dem geschützten Rahmen des Beratungsgesprächs, dass ihnen geglaubt wird. Die Betroffenen erhalten von der Stiftung, so ihre Schilderungen glaubhaft sind, eine einmalige Geldzahlung sowie eine einmalige Rentenersatzleistung, sofern sie nicht sozialversicherungspflichtig in Behinderteneinrichtungen gearbeitet haben.
Wiedererlangung von Würde statt Wiedergutmachung
Behinderte Menschen stehen und sitzen in einem Raum in der Außenstelle der Nervenklinik Schwerin im Kloster Dobertin. © NDR
Auch viele Menschen mit Behinderung mussten großes Leid in Heimen ertragen.
Viel wichtiger ist ihnen jedoch die Anerkennung ihres Schicksals. Es geht nicht um Wiedergutmachung, sondern um die Wiedererlangung von Würde, meint der Stralsunder Psychiater Harald Freyberger. In der DDR waren psychiatrische Einrichtungen ebenso wie Behindertenheime ökonomisch extrem schlecht ausgestattet. "Patienten lebten auf Baustellen, in Bruchbuden mit altem Mobilar, mit schlechter Personalausstattung", sagt Freyberger. In der alten Bundesrepublik waren die Zustände in den Einrichtungen vergleichbar schlecht, bis sich ab Ende der 60er-Jahre grundsätzliche Reformen durchsetzten - Therapieansätze und Angebote der Förderung, die in der DDR teils auch aus ideologischen Gründen ausblieben.
"Ein Armutszeugnis für den Sozialstaat DDR", meint Stasi-Landesbeauftragte Drescher und ein weitgehend noch unerforschtes Thema. Sie rechnet derzeit mit etwa 1.500 Menschen, die allein in Mecklenburg-Vorpommern einen Anspruch auf finanzielle Hilfen der Stiftung hätten. Eine grobe Schätzung. Ein Schicksal hat Drescher besonders bewegt. Das eines Mädchens, das viele Jahre in unterschiedlichen Behindertenheimen einfach nur "verwahrt" wurde und plötzlich nach dem Ende der DDR durch Fördermaßnahmen sprechen lernte. Axel Niebel ist heute 54 Jahre alt und Sicherheitschef bei den Störtebeker-Festspielen in Ralswiek auf Rügen - auch ohne Schulabschluss.
Anlauf- und Beratungsstellen der Stiftung "Anerkennung und Hilfe"
Niedersachsen
Niedersächsisches Landesamt für Soziales, Jugend und Familie
Anlauf- und Beratungsstellen in Hannover, Braunschweig und Oldenburg
E-Mail: Stiftung@ls.Niedersachsen.de
Tel. Hannover: (0511) 897 01-172
Tel. Braunschweig: (0531) 70 19-165
Tel. Oldenburg: (0441) 22 29-760 oder -761
Mecklenburg-Vorpommern
Anlauf- und Beratungsstelle bei der Landesbeauftragten für die Aufarbeitung der SED-Diktatur (Schwerin)
E-Mail: stiftung@lstu.mv-regierung.de
Tel: (0385) 55 15 69 01
Schleswig-Holstein
Anlauf- und Beratungsstelle beim Landesamt für Soziale Dienste in Schleswig-Holstein (Neumünster)
E-Mail: antje.christiansen@lasd.landsh.de und britta.toelch@lasd.landsh.de
Tel. (04321) 913 -753 oder -751
Hamburg
Anlauf- und Beratungsstelle beim Versorgungsamt Hamburg
E-Mail: stiftung-anerkennung-hilfe@basfi.hamburg.de
Tel. (040) 115
Dieses Thema im Programm:
Nordmagazin | 25.02.2018 | 19:30 Uhr
https://www.ndr.de/
3. YouTube-Videos zur Heimerziehung nach 1945
05.01.2017 - Behinderte Kinder in Heimen eingesperrt
01237 Dresdner Sozialwacht
Quelle: ARD / BR
Nach Informationen von BR Recherche sind Kinder mit geistiger Behinderung in bayerischen Heimen freiheitsbeschränkenden Maßnahmen ausgesetzt. Das Sozialministerium bestreitet die Einschlüsse.
https://www.youtube.com/watch?v=0FVvz4hdqu0
11.04.2016 - Geraubte Kindheit (2013)
Schläge, Drill und Demütigungen waren in vielen Kinderheimen in der Nachkriegszeit an der Tagesordnung - auch in Osnabrück. Julia Schlöpker hat 2013 das ehemalige Heimkind Jürgen Beverförden begleitet - auf einer Reise zurück in die Vergangenheit. Heute setzt er sich für die Rechte ehemaliger Heimkinder ein und hat dafür das Bundesverdienstkreuz bekommen.
https://www.youtube.com/watch?v=eFZR5Rhdwkk
02.01.2017 - Und alle haben geschwiegen - Kinderheime in Deutschland
langweilige Dokus
Die Dokumentation greift die Geschichten aus dem ZDF-Spielfilm "Und alle haben geschwiegen" auf und lässt die wahren Heimkinder erzählen, wie sie ihre gestohlene Kindheit erlebt haben.
https://www.youtube.com/watch?v=Y00m6yV6BoM
3.1 YouTube-Videos zur institutionellen und personellen Nazi-Kontinuität in der Heimerziehung nach 1945
10.08.2020 - Exklusiv: wie SS-Männer nach dem Krieg Kinder quälten
Den ganzen Film gibt es in der ARD Mediathek: https://1.ard.de/kurkinder
Zwischen 1950 und 1990 wurden hunderttausende Kinder zur Erholung in Kuren geschickt. Die Auswertung von 1.000 Erfahrungsberichten ehemaliger #Kurkinder zeigt, dass sie systematisch geschlagen, gequält und misshandelt wurden. Mindestens drei Heime von Kurkindern wurden von SS-Kriegsverbrechern geleitet.
https://www.youtube.com/watch?v=V8Z8-kB93Hk
05.02.2020 - Versuchskaninchen Heimkind - Medikamententests an Kindern in der BRD | SWR Doku
SWR Doku
Es ist ein Skandal, der lange verschwiegen wurde: Seit Beginn der Bundesrepublik bis in die 1970er Jahre wurden Kinder und Jugendliche in Heimen und Psychiatrien Opfer von Ärzten und Pharmakonzernen. Sie wurden mit Medikamenten ruhiggestellt, für medizinische Versuchsreihen missbraucht sowie schmerzhaften und schon damals umstrittenen Diagnoseverfahren unterzogen. Bis heute leiden viele von ihnen unter den Folgen.
Heime, Ärzte und Pharmakonzerne
In den Wirtschaftswunderjahren wurde die glückliche Kleinfamilie zum gesellschaftlichen Idealbild. Verhaltensauffällige Kinder sowie Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen dagegen wurden oft in völlig überfüllte Heime und Psychiatrien abgeschoben, wo sie weitgehend von der Außenwelt abgeschottet und häufig einer autoritären Erziehung ausgeliefert waren. In vielen Heimen wurden Kinder mit Medikamenten vollgepumpt, um sie ruhig zu stellen. Doch damit nicht genug: In Zusammenarbeit mit Pharmakonzernen nutzten Ärzte die Situation in solchen Einrichtungen aus, um auch neue Medikamente und Behandlungsmethoden auszuprobieren – und verstießen dabei gegen schon damals geltende fachliche und ethische Standards. Nicht wenige der Ärzte waren in die Verbrechen der Nationalsozialisten wie den Mord an körperlich und geistig behinderten Kindern verstrickt gewesen.
Spurensuche mit Opfern
Gemeinsam mit drei ehemaligen Heimkindern sowie der Tochter und Enkelin von beteiligten Ärzten begibt sich der Film auf Spurensuche. Durch die sehr persönlichen Schilderungen von den Qualen der Opfer und den Folgen der Behandlungsmethoden öffnet der Film immer wieder neue Türen in die Geschichte von Heimerziehung sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie und deckt die Verflechtungen zwischen Ärzten und Pharmakonzernen im Nachkriegsdeutschland auf. Historiker und Experten erklären, warum es möglich war, dass Ärzte auch um ihrer Karriere und ihrer finanziellen Vorteile willen an wehrlosen Opfern forschen konnten.
Diese Doku von Daniela Schmidt-Langels aus der Reihe "Geschichte im Ersten" trägt den Originaltitel: Versuchskaninchen Heimkind, Ausstrahlungsdatum: 03.02.2020. #swrdoku
Alle Aussagen und Fakten entsprechen dem damaligen Stand und wurden seitdem nicht aktualisiert.
https://www.youtube.com/watch?v=1qBrKxx7XOU
3.2 YouTube-Videos zur DDR-Heimerziehung
Gewalt an Verschickungskindern - Was geschah in den Erholungsheimen der DDR? (vom 18.02.2021)
medienhaus nord
Alle Informationen, Nachrichten und Videos tagesaktuell auf http://www.svz.de
Seit Beginn der 50er Jahre wurden Kinder auf Kur geschickt. Bis in die 90er Jahre verreisten Millionen von ihnen über mehrere Wochen in Verschickungsheime. Monika Fischer war eines von ihnen.
Gewalt an Verschickungskindern – Alles Einzelschicksale? Wir haben bei einer Betroffenen nachgefragt.
https://www.youtube.com/watch?v=spqTgwXLMFs
20.10.2017 - Heimkinder in der DDR - Zu lange geschwiegen
HAUPTSTADT TV
Sie teilen alle ein Schicksal: Sie waren Heimkinder in der DDR. Sie wurden ihren Familien entrissen, weil sie oder ihre Eltern nicht regimekonform waren. Nun möchten sie mit einer Fotoausstellung auf ihre Geschichten aufmerksam machen. Die Wanderausstellung "Vergangenheit bewältigen" ist gerade in der Kreisverwaltung Potsdam-Mittelmark in Bad Belzig zu Gast.
https://www.youtube.com/watch?v=HkAknVsi7Ek
06.06.2017 - DDR-Umerziehung - Heimkinder in der DDR - deutsch
Von den über 700 Kinder- und Jugendheimen der DDR waren 150 so genannte Spezial-Kinderheime.
Dort herrschten „verschärfte Bedingungen“, wie Freiheitsentzug, Bestrafungen und seelische Grausamkeiten.
https://www.youtube.com/watch?v=yraSwbFvXVA
10.09.2014 - Auf Biegen und Brechen DDR Heimerziehung und ihre Folgen
DDR Kanal
Sie galten als verhaltensgestört oder schwer erziehbar. Heimkinder wuchsen in der DDR mit Drill auf, wurden misshandelt und mussten bis zur totalen Erschöpfung arbeiten.
https://www.youtube.com/watch?v=ozt3-ePHGeo
21.06.2020 - Brutaler Drill: Das Leiden der Kinder in DDR-Erziehungsanstalten | Kontrovers | BR24
BR24
30 Jahre nach dem Ende der DDR ist nicht alles Unrecht aufgearbeitet. Kinder und Jugendliche, die nicht in das sozialistische Erziehungssystem passten, wurden in geschlossenen Jugendwerkhöfen zermürbt: mit brutalem Drill. Manche hielten das nicht aus. Damalige Opfer und ihre Angehörigen leben inzwischen in Bayern und kämpfen bis heute für die Anerkennung des damals zugefügten Unrechts.
https://www.youtube.com/watch?v=_fI5Q3b1pTk
11.04.2014 - Heimkinder der DDR kämpfen um ihre Rehabilitierung
nnldj
https://www.youtube.com/watch?v=eOYFTMp6N2E
31.05.2014 - DDR - Spezialkinderheime Interview mit dem Betroffenen Ralf Weber
Andreas Freund - Andreas Golz
Dieses Interview legt dar, wie mit uns Kindern in sogenannten Sonder- und Spezialkinderheimen der DDR umgegangen wurde und wie verheerend die Kinderversorgung in der DDR war. Auch wenn heutzutage viele der Meinung dies wäre in der dort besser geregelt gewesen als heute.
https://www.youtube.com/watch?v=CPuru5ANFkw
04.08.2013 - Andreas Freund - "Spurensuche - Ich war im Kinderknast von Torgau" KinderKZ Torgau
Andreas Freund - Andreas Golz
Jürgen Fliege begleitet Andreas Freund durch seine einstige Odyssee durch Kinderheime und Erziehungsanstalten der ehemaligen DDR die Andreas Freund in seiner Kindheit durchschreiten musste. Ein weiteres Beispiel wie man in der einstigen DDR mit Kindern verfuhr, die nicht Staatskonform standen und ihre Individualität ausleben wollten.Wie man mit Ihnen verfuhr um sie gefügig zu machen und zu brechen.
https://www.youtube.com/watch?v=6RQUGMNxewA
17.01.2010 - Schlimmer als Knast-Die Jugendwerkhöfe der DDR-Teil I
poison696
Sehr gute Doku über ein tabu Thema in der ehemaligen DDR
https://www.youtube.com/watch?v=ZFQLMstkdMw
4. Online-Artikel zur Staatlichen Verantwortung, u.a. des Jugendamtes, in Diskussion und Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in Kinderheimen und im kirchlichen Kontext
Erzbistum Köln
300.000 Euro Schmerzensgeld für Missbrauchsopfer
Stand: 13.06.2023 19:16 Uhr
Das Erzbistum Köln muss einem früheren Messdiener 300.000 Euro Schmerzensgeld zahlen. Der heute 64-Jährige war in den 1970er-Jahren von einem Priester mehr als 300 Mal missbraucht worden. Das Urteil könnte Signalwirkung haben.
Von Christina Zühlke
300 000 Euro Schmerzensgeld soll ein Betroffener von sexualisierter Gewalt vom Erzbistum Köln bekommen. Das hat das Landgericht Köln am Dienstag entschieden. Ursprünglich hatte der Kläger Georg Menne insgesamt rund 800.000 Euro an Schmerzensgeld und Entschädigung gefordert. Dennoch überschreitet die Summe von 300.000 Euro die bisherigen Zahlungen der katholischen Kirche an Betroffene um ein Vielfaches.
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Erzbistum Köln muss Missbrauchsbetroffenem 300.000 Euro zahlen | dpa/ Federico Gambarini3 Min
Erzbistum Köln muss 300.000 Euro Schmerzensgeld zahlen
Der Kläger war als Kind in den 70er Jahren über zehn Jahre lang von einem Priester missbraucht worden.Das Erzbistum Köln hatte entschieden, in dem Fall keine Verjährung geltend zu machen. In einem Statement des Erzbistums Köln zum Urteil heißt es: Sexueller Missbrauch ist ein Verbrechen, dessen Folgen die Betroffenen oft ein ganzes Leben lang beeinträchtigen bzw. begleiten. Das Erzbistum Köln übernimmt für dieses erlittene Unrecht und Leid institutionelle Mitverantwortung.
Erzbistum Köln: 300.000 Euro Schmerzensgeld an Missbrauchsopfer
Taten des Priesters waren der Kirche lange bekanntDer damalige Kölner Erzbischof Joseph Höffner und andere Verantwortliche wussten schon von Vorwürfen gegen den Priester aus den 50er und 60er Jahren. Doch sie versetzten den Täter nur. So konnte er in den 70er Jahren Georg Menne und andere Kinder über zehn Jahre lang missbrauchen."Wenn sie ihn aus dem Verkehr gezogen hätten, wäre es nicht zu den Taten gekommen, die mir und anderen Kindern widerfahren sind", davon ist Georg Menne überzeugt.
Klage trotz VerjährungDie Kirche bestreitet diese Taten nicht. Aber der Täter ist längst tot, die Taten verjährt. Keine Chance mehr, dachte Georg Menne ursprünglich. Der 64-Jährige ist selbst Theologe und arbeitete als Gemeindereferent – nicht als Pfarrer – für das Erzbistum Köln.Seine Anwälte hatten ihm geraten, gegen das Erzbistum Köln als Institution zu klagen. Weil die Verantwortlichen ihn als Kind nicht geschützt hätten, wie es ihre Aufgabe gewesen wäre.Menne und seine Anwälte forderten ein Schmerzensgeld von 725.000 Euro, dazu wären weitere Kosten gekommen und eine sogenannte "Anerkennungsleistung" von 25.000 Euro die Menne bereits erhalten hat. Insgesamt ergab sich so ein Streitwert von 805.000 Euro.Dass Menne eine sechsstellige Summe bekommt, hatte der Richter bereits am ersten Prozesstag vor dem Landgericht Köln angedeutet. Die nun zugesprochenen 300.000 Euro liegen zwar deutlich unterhalb der Forderung, aber die Höhe der Summe ist ein völlig neuer Schritt im Kampf der vielen Betroffenen mit dem mächtigen Gegner katholische Kirche."Ein Meilenstein"Einer dieser Betroffenen ist auch Markus Elstner. Er wurde als Elfjähriger von dem beschuldigten Priester missbraucht und plant ebenfalls gegen die Kriche zu klagen. "Für mich war das ein Meilenstein, dass die Kirche uns nicht mehr mit 1.000 oder 5.000 Euro abspeisen kann", so Elstner. "Es ist großartig, dass Georg Menne diesen Weg für uns gegangen ist."Auch Wilfried Fesselmann aus Essen ist ein Opfer des Priesters. Nach dem Prozess gibt er sich zufrieden, und findet wichtig, "dass die Kirche für die Taten ihrer Priester zahlen muss."Körperliche Folgen bis heuteEinige Tage vor dem letzten Prozesstag ist Georg Menne die Anspannung anzumerken. Angstattacken, Schlafstörungen, körperliche Beschwerden, alles, was der Missbrauchstäter als Kind bei ihm ausgelöst hat, kommt auch jetzt wieder zum Vorschein – immer dann, wenn der Stress zu groß wird.Jahrelang hat er gedacht, seine Kirche und schon gar einen Bischof dürfe man doch nicht verklagen. Er selbst hat als Krankenhausseelsorger bis zu seiner Rente für das Erzbistum von Kardinal Rainer Maria Woelki gearbeitet.
George Menne steht an den Rhein-Terrassen. Im Hintergrund sieht man den Kölner Dom.
Schmerzensgeldklage Erzbistum Köln: George Menne
Es bleibt eine Zerrissenheit: "Für die einen bin ich der Nestbeschmutzer und für die anderen der Schwarzkittel und keinem kann ich es recht machen". Dabei, sagt Menne, habe er doch auch früh gelernt, es vor allem dem Täter recht zu machen, "damit ich einigermaßen überleben kann"."Auf Zeit gespielt"Matthias Katsch von der Betroffenen-Initiative Eckiger Tisch sieht den Prozess in Köln als Bestätigung, dass die bisherigen Zahlungen der Kirche zu gering sind: "Es ist bedauerlich, dass die Kirche erst durch Gerichte gezwungen werden muss, angemessen zu entschädigen". Schon 2019 habe eine Arbeitsgruppe Summen zwischen 50.000 und 400.000 Euro empfohlen. Die katholischen Bischöfe hatten die Arbeitsgruppe beauftragt, die Empfehlung dann aber ignoriert und stattdessen einen Richtwert von 50.000 Euro genannt.Georg Menne bekam bisher 25.000 Euro als sogenannte "Anerkennung des Leids". Matthias Katsch sagte dem WDR: "Kein Betroffener muss sich jetzt mehr damit zufriedengeben, diese Almosen zu empfangen. Gleichzeitig wird auch deutlich, wie zynisch die Kirche offensichtlich über die letzten Jahre auf Zeit gespielt hat". Für Betroffene stelle sich jetzt außerdem die Frage, ob sie alle einzeln vor Gericht ziehen müssten."Ich tue es für meine Familie"Dem Anwalt von Georg Menne, Eberhard Luetjohann, ist nach eigener Aussage eine Reihe von Betroffenen bekannt, die nun ebenfalls klagen will.Eine hohe Schmerzensgeldsumme ist aber nicht nur ein Signal an die Betroffenen. Sie sei auch wichtig, weil nur ein schmerzhafter Betrag dazu führen könne, dass die katholische Kirche und andere Organisationen ihren Umgang mit Betroffenen von sexualisierter Gewalt verändern werden.Georg Menne habe sich durchaus zwischendurch gefragt: "Warum das Ganze?". Dann muss er schlucken: "Ich tue es auch für meine Familie. Die haben viel unter mir gelitten. Die Wut, die Wutausbrüche, die sie nicht verstanden haben. Für sie tue ich es".
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Über dieses Thema berichten wir auch in der Lokalzeit aus Köln im Fernsehen um 19.30 Uhr.
Westdeutscher Rundfunk
Quelle: WDR
Dieses Thema im Programm:
Über dieses Thema berichtete BR24 am 13. Juni 2023 um 16:29 Uhr.
https://www.tagesschau.de/
Wegweisende Entscheidung
Erzbistum Köln muss 300.000 Euro an Missbrauchsopfer zahlen
Hunderte Male soll Georg Menne von einem Pfarrer brutal vergewaltigt worden sein. Vor Gericht erkämpfte er jetzt eine historisch hohe Summe vom Erzbistum Köln. Dennoch wird der Kläger wohl in Berufung gehen.
Von Annette Langer, Köln
13.06.2023, 18.38 Uhr
...
https://www.spiegel.de/
Gericht: Erzbistum Köln muss 300.000 Euro an Missbrauchsopfer zahlen
Der Tag
13.06.2023, 16:23 Uhr
Mehr als 300 Mal wurde er in den 1970er Jahren von einem Priester missbraucht. Dafür bekommt ein heute 62 Jahre alter Mann vom Landgericht Köln 300.000 Schmerzensgeld vom Erzbistum Köln zugesprochen. Gefordert hatte der Mann ursprünglich 750.000 Euro Schmerzensgeld. Das Erzbistum Köln hatte in dem Fall keine Verjährung geltend gemacht.
Bisher leistet die katholische Kirche freiwillige Zahlungen für Missbrauchsbetroffene, sogenannte Anerkennungsleistungen. Die dafür zuständige Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) in Bonn hat bisher in 143 Fällen eine Summe von mehr als 50.000 Euro zuerkannt. In 24 Fällen ging es um mehr als 100.000 Euro. Betroffene haben die Zahlungen immer wieder als zu gering kritisiert.
Quelle: ntv.de
https://www.n-tv.de/
Nordrhein-Westfalen
"Bild": Strack-Zimmermann will Bischofserklärung zu Woelki
14.05.2023, 17:17 Uhr
Köln (dpa/lnw) - FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann hat die Bischofskonferenz zu einer Erklärung im Fall des Kölner Kardinals Woelki aufgefordert. "Die Bischofskonferenz will in allen politischen Fragen mitreden. Nur beim Fall Woelki schweigt sie: Das geht nicht! Die deutschen Bischöfe müssen sich erklären", sagte die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Bundestages nach Angaben der "Bild"-Zeitung.
Sie habe sich "schon lange gewünscht, dass Woelki sein Amt aufgibt", zitiert die Zeitung die Düsseldorferin. Spätestens jetzt, da die Staatsanwaltschaft wegen Meineides gegen ihn ermittele, müsse er sein Amt als Erzbischof ruhen lassen. Strack-Zimmermann soll die FDP bei der Europawahl als Spitzenkandidatin anführen.
Quelle: dpa
https://www.n-tv.de/
„Hohe kriminelle Energie und Raffinesse“: Missbrauchsbetroffenen-Vertreter Katsch vergleicht katholische Kirche mit Mafia
Matthias Katsch greift nach Veröffentlichung der jüngsten Missbrauchsstudie Vertreter der katholischen Kirche hart an. Der Bericht wirft ehemaligen Kirchenvertretern schwere Versäumnisse vor.
Von Aljoscha Huber
Heute, 09:23 Uhr
Matthias Katsch, der Sprecher der Missbrauchsopfer-Initiative „Eckiger Tisch“, vergleicht das Vorgehen der katholischen Kirche in Deutschland in der aktuellen Ausgabe des Magazins „Der Spiegel“ mit der organisierten Kriminalität. Er sprach nach der Veröffentlichung der jüngsten Missbrauchsstudie aus dem Erzbistum Freiburg von einer „Woche der Wahrheit“ für die katholische Kirche in Deutschland.
Er kritisiert die schweren Versäumnisse und die konkrete Vertuschung von Missbrauchstaten durch ehemalige Erzbischöfe.
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Katsch betont, dass die Bischöfe und ihre Vertreter nicht mehr vertrauenswürdig seien und fordert den Deutschen Bundestag auf, eine Untersuchungskommission einzusetzen, um sämtliche Archive der deutschen Diözesen zu durchsuchen und die Unterlagen auszuwerten. „Das gebietet schon die Selbstachtung“, so Katsch im „Spiegel“.
Die „Arbeitsgruppe Machtstrukturen und Aktenanalyse“ veröffentlichte am 11. April einen fast 600 Seiten langen Bericht, in dem dem ehemaligen Erzbischof Robert Zollitsch und seinem Vorgänger Oskar Saier schwere Versäumnisse und eine gezielte Vertuschung von Missbrauchstaten vorgeworfen wurden. In der Diözese seien Akten versteckt oder vernichtet worden, Missbrauchsmeldungen unterblieben und Opfer sowie Angehörige hätten für die Kirchenverantwortlichen überhaupt keine Rolle gespielt, heißt es in dem Bericht.
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Erste Schmerzensgeldklage nach Missbrauch Das wird die Mauern des Schweigens in der Kirche erschüttern
Wie Alt-Erzbischof Robert Zollitsch offenbar Öffentlichkeit und Politik hinters Licht geführt habe, sei Ausdruck einer „atemberaubenden Unverfrorenheit“, erklärt Katsch im „Spiegel“.
Katsch zieht Parallelen zwischen dem Vorgehen der katholischen Kirche und der organisierten Kriminalität der Mafia, wo „mit offensichtlich hoher krimineller Energie und Raffinesse teilweise über Grenzen hinweg durch eine mächtige Institution systematisch Täterschutz betrieben und die Justiz offenbar bewusst getäuscht wird“. Den Bischöfen und ihren Vertretern sei nicht mehr zu trauen.
https://www.tagesspiegel.de/
KONSEQUENZEN AUS FEHLVERHALTEN GEZOGEN
Bistum Limburg: Generalvikar tritt nach Fehlern zurück
STAND
25.4.2023, 12:59 UHR
Der Generalvikar des Bistums Limburg, Wolfgang Rösch, ist zurückgetreten. Laut Bistum soll er bei der Aufklärung übergriffigen Verhaltens eines Priesters Fehler gemacht haben.
Verwaltungschef Rösch habe den Limburger Bischof nicht über Vorwürfe gegen den Priester Christof May informiert, teilte das Bistum mit. May war 2018 zum Leiter des Priesterseminars befördert worden und hatte sich im Juni 2022 das Leben genommen.
Rösch bittet um Entpflichtung vom Amt des Generalvikars
Der Limburger Bischof Georg Bätzing hatte May am Tag davor von allen Ämtern freigestellt, um Vorwürfe übergriffigen Verhaltens prüfen und klären zu können. Bischof Bätzing, der auch Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz ist, hatte nach Mays Tod einen externen Juristen mit einer Untersuchung beauftragt. "Die Ergebnisse des Juristen liegen jetzt vor und haben mir deutlich gemacht, dass ich Fehler gemacht habe", schrieb der inzwischen zurückgetretene Generalvikar Rösch in einem Brief an die Mitarbeitenden des Bistums: "Dafür ziehe ich persönlich Konsequenzen, indem ich um Entpflichtung vom Amt des Generalvikars gebeten habe."
Er sei 2015 fälschlicherweise davon ausgegangen, dass die Vorwürfe übergriffigen Verhaltens des toten Priesters gegenüber Erwachsenen gegenstandslos seien: "Damals habe ich ein gemeinsames Gespräch mit einer betroffenen Person und dem Beschuldigten geführt. Das war ein Fehler. Dieses gemeinsame Gespräch konnte der betroffenen Person nicht gerecht werden. Ich bitte alle, die durch mein Fehlverhalten getroffen und verletzt sind, um Verzeihung."
Der Generalvikar des Bistums Limburg, Wolfgang Rösch (li), ist zurückgetreten, weil er bei der Aufklärung übergriffigen Verhaltens eines Priesters Fehler gemacht hat. Nachfolger ist Wolfgang Pax. (Foto: Eva-fotografiert/Bild Pax: C. Beese/Bistum Limburg/Collage: F. Schuld/Bistum Limburg)
Der Generalvikar des Bistums Limburg, Wolfgang Rösch (li), ist zurückgetreten, weil er bei der Aufklärung übergriffigen Verhaltens eines Priesters Fehler gemacht hat. Nachfolger ist Wolfgang Pax (re).
Bätzing stellte Priester vom Amt frei, um Vorwürfe zu prüfen
Bischof Bätzing hatte den Priester May am 8. Juni 2022 von allen Ämtern freigestellt, um Vorwürfe zu prüfen, die mehrere Personen gegen ihn geäußert hatten. Einen Tag danach wurde May tot aufgefunden. Im November teilte das Bistum mit, dass die Vorwürfe sich erhärtet hätten und disziplinarrechtliche Maßnahmen gegen May zur Folge gehabt hätten: "Strafrechtlich wären die Vorwürfe nicht relevant gewesen."
"Es ist der dritte Fall innerhalb weniger Wochen"
2 Min
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Bischof Bätzing dankte seinem langjährigen Verwaltungschef Rösch für dessen vielfältige Arbeit und sagte "Es ist wichtig, dass aus neuen Erkenntnissen auch Konsequenzen gezogen werden. Ich habe Respekt dafür, dass er Verantwortung für sein damals fehlerhaftes Handeln übernimmt."
Pax ist neuer Generalvikar des Bistums Limburg
Zum neuen Generalvikar wurde Domdekan Wolfgang Pax ernannt. Der 64-jährige Pax stammt aus Bad Iburg im Landkreis Osnabrück. Seit August 2010 leitet er das Kommissariat der Katholischen Bischöfe in Hessen, die oberste Verbindungsstelle zwischen Kirche und Politik. Pax war zudem vier Jahre bis 2022 Bischofsvikar für den synodalen Bereich und steht seit 5. März 2022 als Domdekan dem Limburger Domkapitel vor.
Sendung vom
Di., 25.4.2023 13:00 Uhr, Am Nachmittag, SWR4 Rheinland-Pfalz
https://www.swr.de/
Limburger Generalvikar tritt als Konsequenz aus Umgang mit Missbrauch zurück
Von CNA Deutsch Nachrichtenredaktion
Limburg - Dienstag, 25. April 2023, 12:02 Uhr.
Der Limburger Generalvikar Wolfgang Rösch ist am Montag von seinem Amt zurückgetreten. Damit zog er nach eigenen Angaben die Konsequenz aus Fehlverhalten im Umgang mit übergriffigem Verhalten durch den Priester Christof May, der sich im Juni 2022 das Leben genommen hatte, nachdem er von Bischof Georg Bätzing von allen Ämtern freigestellt worden war.
Eine juristische Untersuchung sollte klären, ob Rösch bereits 2015 Kenntnis über Vorwürfe übergriffigen Verhaltens durch May gegenüber erwachsenen Personen hatte. „Ich erfuhr 2015 von den Vorwürfen gegen Christof May und habe es mir zur Aufgabe gemacht, diese zu klären“, sagte Rösch. „Damals habe ich ein gemeinsames Gespräch mit einer betroffenen Person und dem Beschuldigten geführt. Das war ein Fehler. Dieses gemeinsame Gespräch konnte der betroffenen Person nicht gerecht werden.“
Er sei nach dem Gespräch „fälschlicherweise“ davon ausgegangen, „dass die Beschuldigung gegenstandslos sei“. Daher habe er Bätzing bei der Berufung von May zum Regens und Bischofsvikar nicht auf die Vorwürfe hingewiesen.
„Die Ergebnisse des Juristen liegen jetzt vor und haben mir deutlich gemacht, dass ich Fehler gemacht habe“, so Rösch. „Dafür ziehe ich persönlich Konsequenzen, indem ich um Entpflichtung vom Amt des Generalvikars gebeten habe.“ Er bitte „alle, die durch mein Fehlverhalten getroffen und verletzt sind, um Verzeihung“.
Der Limburger Bischof Bätzing, der auch Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) ist, erklärte, es sei „wichtig, dass aus neuen Erkenntnissen auch Konsequenzen gezogen werden. Ich habe Respekt dafür, dass er Verantwortung für sein damals fehlerhaftes Handeln übernimmt.
Neuer Generalvikar für Limburg ist Wolfgang Pax, der damit für die bischöfliche Verwaltung mit rund 1.500 Mitarbeitern zuständig ist. Als Domdekan ist er gleichzeitig Vorsteher des Domkapitels.
„Ich bin Wolfgang Pax sehr dankbar dafür, dass er sich der neuen Aufgabe als Generalvikar stellt“, erklärte Bischof Bätzing. „Ich weiß, wie engagiert er im Kommissariat an der Schnittstelle Kirche und Politik arbeitet. Sich trotzdem nun der großen Verantwortung und den damit verbundenen hohen Erwartungen eines Generalvikars zu stellen, zeigt mir seine Verbundenheit mit dem Bistum Limburg und auch mit mir als Bischof. Dafür danke ich von Herzen und freue mich auf die enge Zusammenarbeit.“
Tags: Katholische Nachrichten, Bistum Limburg, Bischof Georg Bätzing, Missbrauch
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Missbrauch im Erzbistum Freiburg
Mehr als 250 Priester könnten Täter sein
Stand: 18.04.2023 13:53 Uhr
Das Erzbistum Freiburg hat seinen Bericht zu sexuellem Missbrauch vorgelegt. Die Kommission geht von mehr als 250 Priestern als möglichen Tätern aus. Schwer belastet wird auch der frühere Erzbischof Zollitsch.Im Erzbistum Freiburg sind mehr Menschen von sexualisierter Gewalt durch Geistliche betroffen als bisher offiziell bekannt. Es werde nun von über 540 Betroffenen ausgegangen, sagte der Vorsitzende der Aufarbeitungskommission, Magnus Striet. Zudem gebe es mehr als 250 beschuldigte Kleriker. Die Zahlen müssten jedoch mit Vorsicht betrachtet werden - das Dunkelfeld sei vermutlich erheblich größer.Anlass für Striets Äußerungen war die Vorlage des Berichts über sexuellen Missbrauch im Erzbistum. Auf 600 Seiten analysiert dieser anhand von mehr als 20 Fällen, wie die Kirchenverantwortlichen mit Opfern und Tätern umgingen, und welche Strukturen Missbrauch begünstigten. Die sogenannte AG Aktenanalyse mit vier externen Fachleuten aus Justiz und Kriminalpolizei arbeitet seit 2019, sie wertete etwa 1000 Protokolle der diözesanen Leitungsrunde aus und führte insgesamt mehr als 400 Befragungen durch.
Vorstellung eines Berichts zu sexuellem Missbrauch im Erzbistum Freiburg 2 Min
Julia Henninger, SWR, tagesschau 16:00 Uhr, 18.4.2023 >>>
Systematische Vertuschung unter Saier
Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen vor allem der verstorbene Erzbischof Oskar Saier und der noch lebende emeritierte Erzbischof Robert Zollitsch, der von 2008 bis 2014 auch Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz war.Bei beiden gebe es Hinweise auf Vertuschungen. So seien Pfarrer unverzüglich beurlaubt worden oder hätten plötzlich auf Pfarreien verzichtet - Gründe für diese personellen Veränderungen seien vermutlich bewusst nicht festgehalten worden."Wenn ein Priester hochgradig finanzielle Probleme hatte, wurde das schriftlich festgehalten", erklärte der Jurist Eugen Endress, Mitglied der AG. "Beim Missbrauch war der Kuli dann plötzlich leer." Auch zur Ruhe gesetzte Priester seien unter Saier häufig weiter pastoral tätig gewesen - ohne dass der Erzbischof Vorkehrungen zum Schutz der Gemeinde getroffen hätte.Zudem sprach Endress bei der Pressekonferenz von einer "antizipierten Vertuschungsaktion". Der Erzbischof habe es völlig verweigert, mit Strafverfolgungsbehörden zusammenzuarbeiten. Es habe bei dem Umgang mit der Dokumentation ein "einvernehmliches Zusammenwirken" zwischen dem damaligen Personalreferenten Zollitsch und Erzbischof Saier gegeben.
Robert Zollitsch | Screenshot Report Mainz
Der emeritierte Erzbischof Zollitsch will sich zu der Studie nicht äußern. Bild: Screenshot Report Mainz
Zwei Türme des Freiburger Münsters zeichnen sich vor dem Abendhimmel ab. | dpa
18.04.2023
Bericht zum Missbrauch im Erzbistum Freiburg >>> ge-kommission-freiburg.de
Zollitsch soll das Kirchenrecht komplett ignoriert haben
Nach seiner Dienstzeit als Personalreferent stieg Zollitsch zum Erzbischof auf. Während seiner Amtszeit von 2003 bis 2013 habe Zollitsch das kanonische Recht - also das Kirchenrecht - im Zusammenhang mit Missbrauchsfällen komplett ignoriert, sagte der Jurist Endress. Bei Zollitsch habe "eine vollständige Ignoranz" vorgelegen. Es liege "das Vollbild einer Vertuschung" vor. "Die betroffenen Kinder, Jugendlichen und Eltern schienen für ihn gar nicht existiert zu haben", erklärte der Mitautor des Berichts. "Er meinte offenbar, dass sein Verhalten das einzig Richtige gewesen sei - zum Schutz der Kirche." Zollitsch habe als Erzbischof nicht mehr wie früher vertuschen können, weil sich inzwischen erste innerkirchliche Strukturen zum Umgang mit Tätern und Opfern entwickelt hätten, so die Autoren. Endress zeigte sich fassungslos, dass Zollitsch einvernehmliche sexuelle Verhältnisse von Priestern mit erwachsenen Frauen schlimmer bewertet habe als den Missbrauch von Kindern. "Wir waren sprachlos."
25.03.2023
Katholische Kirche Papst erweitert Maßnahmen gegen Missbrauch >>>
Diese Regeln sollen nun auch für Laien gelten, die "internationale Vereinigungen von Gläubigen" leiten.
Persönliche Erklärung von ZollitschGegen Zollitsch hatte die Staatsanwaltschaft Konstanz 2010 wegen des Vorwurfs der Mitwisserschaft in einem Missbrauchsfall im Erzbistum ermittelt. Er veröffentlichte im vergangenen Herbst eine persönliche Erklärung zum Umgang mit sexualisierter Gewalt. Sie trägt den Titel "Ich bekenne mich ausdrücklich zu meiner Schuld". Er habe schwerwiegende Fehler als Personalreferent und später als Erzbischof begangen, so Zollitsch." Diese Selbsteinschätzung ist rundherum zutreffend", fasste es Endress zusammen. Allerdings sei auffällig, dass Zollitsch häufig von "wir" spricht, seiner persönlichen Verantwortung werde er dadurch nicht gerecht. Der emeritierte Erzbischof habe oft autonom gehandelt und andere Führungspersonen selten um Rat gefragt.Zollitsch hatte gestern in einer Presseerklärung mitgeteilt, er werde sich zu dem heutigen Bericht nicht äußern.
06.10.2022
Missbrauch in Erzdiözese Freiburg. Ex-Erzbischof Zollitsch gesteht Fehler ein swr >>>
Der frühere Freiburger Erzbischof Zollitsch bat um Entschuldigung, er habe die Gefahren verkannt.
Erzbischof Burger: "Bitte die Betroffenen um Verzeihung"Auch der heutige Freiburger Erzbischof Stephan Burger räumte eigene Fehler ein. "Dass ich Fehler begangen habe, steht für mich außer Frage", sagte der 60-Jährige während der Pressekonferenz. So seien Auflagen für beschuldigte Priester nicht konsequent genug kontrolliert worden. "Als Erzbischof bitte ich die Betroffenen um Verzeihung."Burger war von September 2007 bis Juni 2014 Offizial - also Kirchengerichtsleiter - der Erzdiözese Freiburg. Über mögliche kirchenrechtliche Konsequenzen für den 84-jährigen Zollitsch müsse nun der Heilige Stuhl im Rom entscheiden, sagte Burger.
"Bericht ist 600 Seiten lang", Thomas Denzel, SWR, zu Missbrauchsbericht über Erzbistum Freiburg 2 Min
tagesschau 12:00 Uhr, 18.4.2023 >>>
Betroffenenbeirat: "Herzloses" und "kaltblütiges" HandelnBetroffene des Missbrauchs zeigten sich schockiert über die Ergebnisse des Berichts im Erzbistum Freiburg. Die Untersuchung dokumentiere schwarz auf weiß, dass der Kirche "missbrauchte Kinder und verletzte Kinderseelen über Jahrzehnte gleichgültig waren", heißt es in einer ersten Stellungnahme des Betroffenenbeirats im Erzbistum. Dagegen seien die Täter grausamster Verbrechen geschützt worden.Aus Sicht der Betroffenen belastet die Studie vor allem Zollitsch. Unter seiner Führung sei die Kirche ein "Schutzraum für Täter" gewesen und eine "Hölle für Kinder, die sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren und keine Hilfe erhalten haben".Die Betroffenen werfen der Führungsebene im Erzbistum jahrzehntelanges, herzloses und kaltblütiges Handeln vor. "Bis in das Jahr 2014 scheint im Ordinariat eine menschlich nicht nachvollziehbare Kälte und Gleichgültigkeit gegenüber Missbrauchsvorwürfen und vor allem gegenüber Betroffenen geherrscht zu haben", erklärte der Beirat.
Missbrauchsbericht Erzbistum Freiburg wird veröffentlicht 00:58 Min
Hans Michael Ehl, SWR, 18.4.2023 · 06:19 Uhr >>>
Über dieses Thema berichteten am 18. April 2023 Deutschlandfunk um 05:52 Uhr sowie um 09:44 Uhr, tagesschau24 ab 10:19 Uhr und die tagesschau um 12:00 Uhr.
https://www.tagesschau.de/
Erzbistum Freiburg
:Missbrauch: Mehr als 250 mögliche Täter
Datum:
18.04.2023 17:17 Uhr
Das Erzbistum Freiburg hat seinen Bericht zu sexuellem Missbrauch vorgelegt. Mehr als 250 Priester sind demnach mögliche Täter - auch Alt-Erzbischof Zollitsch wird schwer belastet.
Der Freiburger Bericht über sexuellen Missbrauch durch Geistliche hat Abgründe des Machtsystems Kirche offengelegt und gnadenlos mit der Ära des damaligen Erzbischofs Robert Zollitsch (84) abgerechnet. Dessen Amtszeit bis 2013 war durch "konkretes Vertuschungsverhalten" geprägt, wie es in dem in Freiburg vorgelegten Report heißt.
Die Autoren der unabhängigen Studie bewerteten am Dienstag auch das Verhalten von Zollitsch' verstorbenen Amtsvorgänger Oskar Saier äußerst kritisch. In der Amtszeit des amtierenden Erzbischofs Stephan Burger seien hingegen keine Verfehlungen aufgefallen.
Missbrauchsbericht: Vorwürfe gegen Alt-Erzbischof Zollitsch
"Das sticht heraus", sagte der Freiburger Theologe und Vorsitzende der Aufarbeitungskommission, Magnus Striet, insbesondere mit Blick auf Vorwürfe gegen Zollitsch. Der hohe Geistliche war von Februar 2008 bis März 2014 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz und damit Gesicht und Stimme der katholischen Kirche gewesen.
Als Erzbischof habe Zollitsch alles unterlassen, was kirchenrechtlich vorgeschrieben gewesen wäre, sagte einer der Autoren der Studie, Eugen Endress. Auf eigentlich verpflichtende Meldungen von Missbrauchsfällen nach Rom habe Zollitsch komplett verzichtet.
Nichts ist passiert, alles lief so wie immer.
Eugen Endress, Autor der Studie
Zollitsch hatte bereits im Oktober in einem Video schwerwiegende Fehler und persönliche Schuld eingeräumt. "Er lag mit dieser Selbsteinschätzung richtig", kommentierte dies Endress mit einem Anflug von Ironie.
Die Erzdiözese München und Freising hat jetzt erklärt, dass sie sich nicht darauf berufen will, dass die Taten verjährt sind.
Beitragslänge:
2 min
Datum:
31.01.2023
Erzbistum Freiburg gehört zu den größten der 27 Diözesen in Deutschland
Zollitsch führte das Erzbistum Freiburg von 2003 bis 2013. Von 1983 an war er zwei Jahrzehnte lang Personalreferent im Erzbischöflichen Ordinariat gewesen. Mit rund 1,8 Millionen Katholiken gehört das Erzbistum zu den größten der 27 Diözesen in Deutschland.
Schon während seiner Zeit als Personalreferent des damaligen Erzbischofs Saier habe Zollitsch entscheidend dazu beigetragen, Verdachtsfälle von Missbrauch durch Geistliche zu vertuschen, lautete ein Vorwurf. Saier habe gegenüber dem Missbrauchsthema eine "bewusste Ignoranz an den Tag gelegt", die Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft verweigert und den Umgang mit dieser Thematik faktisch Zollitsch überlassen.
Dieser habe Missbrauchsfälle vertuscht und auch darauf geachtet, dass Akten möglichst sicher aufbewahrt und möglichst auch für Anklagebehörden nicht zugänglich gemacht wurden, berichtete Endress. Saier amtierte von 1978 bis 2002.
Chronik der Missbrauchs-Aufarbeitung
Nach langem Schweigen begann in der katholischen Kirche 2010 die Aufarbeitung von Missbrauch und dessen Verschleierung. Am heutigen Dienstag stellt das Erzbistum Freiburg eine umfassende Studie vor. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) dokumentiert wichtige Etappen der Aufarbeitung:
2010
Januar 2010: Der Jesuit Klaus Mertes macht öffentlich, dass es an seiner Schule in Berlin sexualisierte Gewalt und Missbrauch gab - und die Fälle lange verschleiert wurden. Der Skandal löst eine Welle von Enthüllungen in der Kirche und in anderen Institutionen aus.
Februar 2010: Die katholischen Bischöfe bitten bei ihrer Vollversammlung in Freiburg um Entschuldigung. Ein Sonderbeauftragter wird benannt, eine Hotline für Betroffene eingerichtet.
März 2010: Die Kirche sitzt mit am von der Bundesregierung eingerichteten Runden Tisch.
August 2010: Die Bischöfe verschärfen ihre "Leitlinien zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch". Glaubhaft verdächtigte Geistliche müssen umgehend vom Dienst suspendiert werden.
2010: In Freiburg beruft die Erzdiözese die erste unabhängige Missbrauchsbeauftragte.
2013
2013: In Freiburg gibt es Kritik am damaligen Erzbischof Robert Zollitsch. Er soll in einem der schlimmsten Missbrauchsfälle der Diözese, im Schwarzwaldort Oberharmersbach, vertuscht haben.
2014
März 2014: Die Bischöfe beauftragen einen Forschungsverbund um den Mannheimer Psychiater Harald Dreßing mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung.
2018
September 2018: Vorstellung einer bundesweiten Untersuchung, der MHG-Studie. Demnach gab es von 1946 bis 2014 rund 3.700 Betroffene sexueller Übergriffe. Beschuldigt werden 1.670 Priester und Ordensleute, davon sind 190 aus dem Erzbistum Freiburg. Experten gehen von einer hohen Dunkelziffer aus. Die Bischöfe verpflichten sich, Betroffene und unabhängige Fachleute stärker in die Aufarbeitung einzubeziehen.
November 2018: In Freiburg beruft Erzbischof Stephan Burger eine Aufarbeitungskommission.
2019
Anfang 2019: In Freiburg Arbeitsbeginn für die Missbrauchsstudie.
Dezember 2019: Die Bischofskonferenz veröffentlicht erneut verschärfte Leitlinien zum Umgang mit Missbrauchsfällen.
2020
März 2020: Die Bischöfe beschließen ein neues Konzept zur Wiedergutmachung. Opfer können künftig mit deutlich höheren Schmerzensgeldzahlungen als bisher rechnen. Die Kirche orientiert sich an der zivilrechtlichen Schmerzensgeld-Tabelle und entsprechenden Gerichtsurteilen. Dies bedeutet für sexuellen Missbrauch Summen zwischen 5.000 und 50.000 Euro pro Fall.
Juni 2020: Die Bischöfe und der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes Wilhelm Rörig, unterzeichnen eine Vereinbarung zur Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch. Demnach soll die Aufarbeitung transparent und nach einheitlichen Kriterien erfolgen. Auch sollen unabhängige Experten an dem Prozess teilnehmen.
August 2020: Die katholischen Ordensgemeinschaften stellen die Ergebnisse einer Mitgliederbefragung: Es gibt Missbrauchsvorwürfe gegen mindestens 654 Ordensleute und wenigstens 1.412 betroffene Kinder, Jugendliche und Schutzbefohlene.
Dezember 2020: Gründung der Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistung (UKA). Sieben Fachleute aus den Bereichen Recht, Medizin und Psychologie sollen unabhängig über die Höhe der Zahlungen an Betroffene entscheiden.
2021
Juli 2021: In Freiburg Gründung des Betroffenenbeirats aus zwei Frauen und zwei Männern.
Oktober 2021: In Freiburg Gründung der unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der Erzdiözese unter Leitung des Theologen Magnus Striet. Als bundesweit einziges Bistum unterstützt Freiburg sehr schwer Betroffene mit einer Art monatlichen Grundversorgung in Höhe von 200 bis 800 Euro.
2022
Februar 2022: Laut UKA-Jahresbericht gingen 2021 rund 9,4 Millionen Euro an Betroffene.
Oktober 2022: In einem Video bekennt sich der emeritierte Freiburger Erzbischof Zollitsch zu Fehlern im Umgang mit Missbrauch. Er bittet Betroffene um Verzeihung.
2023
März 2023: Mit dem Osnabrücker Bischof Franz-Josef Bode tritt erstmals ein katholischer Bischof im Zusammenhang mit dem Missbrauchsskandal zurück.
18. April 2023: Veröffentlichung des ersten umfassenden Berichts zu Missbrauch im Erzbistum Freiburg.
Quelle: KNA
Kirche war eigenes Image offenbar wichtiger
Des Missbrauchs beschuldigte Priester seien versetzt worden, ohne dass Begründungen für diese Versetzungen irgendwo auftauchten oder gar aktenkundig wurden. Endress sagte:
Das war dann halt einfach so.
Eugen Endress, Autor der Studie
Dokumente, Protokolle, Personalakten seien vernichtet und damit der Weg von Opfern, doch noch zu ihrem Recht zu kommen, erschwert worden, teilte der Betroffenenbeirat in einer Stellungnahme mit. Der Bericht dokumentiere, dass missbrauchte Kinder und verletzte Kinderseelen über Jahrzehnte gleichgültig gewesen seien.
"Wichtiger waren der Kirche ihr Image und damit der Schutz von Menschen, die grausamste Taten an Kindern und Jugendlichen begangen haben." Das unabhängige Gremium soll Betroffene unterstützen. Es ist nach eigenen Angaben unzufrieden mit den sogenannten Anerkennungsleistungen, denn die Beträge seien nicht hoch genug.
Vor einer Woche untersuchten Gutachter Missbrauchsfällen im Erzbistum München und Freising. Der emeritierte Papst Benedikt VI. musste danach Falschaussagen zugeben.
Beitragslänge:
2 min
Datum:
27.01.2022
Burger räumt Versäumnisse ein und bittet um Verzeihung
Burger räumte bei der Pressekonferenz auch eigene Versäumnisse ein. "Dass ich Fehler begangen habe, steht für mich außer Frage", sagte der 60-Jährige. Er bitte die Betroffenen um Verzeihung." Burger war von September 2007 bis Juni 2014 Offizial - also Kirchengerichtsleiter - der Erzdiözese Freiburg. Über mögliche kirchenrechtliche Konsequenzen für Zollitsch müsse nun der Heilige Stuhl im Rom entscheiden. "Die notwendigen Maßnahmen dazu sind eingeleitet", sagte Burger. Es gehe dabei um ein Verfahren, um Verdachtsfälle von Vertuschung zu melden.
Kommissionsleiter Striet sagte auf die Frage zum rechtlichen Status des knapp 600 Seiten starken Abschlussberichts:
Das müssen die Gerichte entscheiden.
Kommissionsleiter Magnus Striet
Nach Auskunft des Verwaltungschefs der Erzdiözese, Christoph Neubrand, sind bisher keine Klagen bekannt. Im Erzbistum wird von über 540 Betroffenen ausgegangen, sagte Striet. Es gebe zudem über 250 beschuldigte Kleriker.
Missbrauchstudie im Bistum Essen
-Das systemische Problem der Kirche >>>
Eine unabhängige Studie zum Bistum Essen kommt zu dem Schluss: Missbrauch ist nicht nur ein persönliches Problem der Täter, sondern ein systemisches der Kirche.
von Dorthe Ferber
Quelle: dpa
https://www.zdf.de/
Missbrauch im Erzbistum Freiburg
Mehr als 250 Priester könnten Täter sein – Vorwürfe gegen früheren Erzbischof Zollitsch
Der Bericht über sexuellen Missbrauch im Erzbistum Freiburg belastet den früheren Erzbischof Zollitsch. Der Vorwurf: Verschleierung und Vertuschung. Zudem ist sowohl die Zahl der Opfer, als auch die der Täter größer als ursprünglich gedacht.
18.04.2023
Die Autoren des Berichts einer Aufarbeitungskommission, die Juristen Endress und Villwock, warfen Zollitsch Versagen vor. Das sei bis hin zum bewussten Verschleiern und Vertuschen gegangen, sagten sie in Freiburg. Zollitsch habe während seiner Amtszeit das Kirchenrecht komplett ignoriert. Auf eigentlich verpflichtende Meldungen von Missbrauchsfällen nach Rom habe Zollitsch komplett verzichtet. Ähnlich schweres Versagen legen sie auch dessen Vorgänger Saier zu Last.
Zollitsch, der frühere Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, hatte bereits schwerwiegende Fehler und persönliche Schuld eingeräumt. Nach Angaben eines Sprechers will er sich zum Abschlussbericht nicht äußern. Der Freiburger Erzbischof Burger zeigte sich erschüttert. Das Versagen seiner Vorgänger mache ihn fassungslos. Der Vatikan müsse kirchenrechtliche Schritte gegen Zollitsch prüfen, so Burger.
„Vertuschung und Missbrauch“
Dem Bericht zufolge sind im Erzbistum Freiburg mehr Menschen von sexuellem Missbrauch durch Geistliche betroffen als bisher offiziell bekannt. Es werde nun von 540 Betroffenen ausgegangen, sagte der Vorsitzende der Aufarbeitungskommission, Striet, in Freiburg. Das sind rund hundert mehr als bisher bekannt. Es gebe zudem mehr als 250 beschuldigte Kleriker. Bisher war von 190 Beschuldigten die Rede.
Die Kommission legte ihren Bericht über sexuellen Missbrauch im Erzbistum heute vor. Die Untersuchung einer unabhängigen Arbeitsgruppe soll aufzeigen, wie Vertuschung und Missbrauch in dem Erzbistum möglich waren. Dafür werden 24 Fälle beispielhaft dargestellt. Die sogenannte AG Aktenanalyse mit vier externen Fachleuten aus Justiz und Kriminalpolizei arbeitet seit 2019.
Betroffenenbeirat: Täter wurden systematisch geschützt
Der Bericht löste beim Betroffenenbeirat Entsetzen aus. Die Untersuchung dokumentiere schwarz auf weiß, dass der Kirche missbrauchte Kinder und verletzte Kinderseelen über Jahrzehnte gleichgültig gewesen sein, teilte der Beirat des Erzbistums in einer Stellungnahme mit. Dagegen seien die Täter grausamster Verbrechen systematisch geschützt worden. Der Betroffenenbeirat forderte die Kirche auf, positive Darstellungen zum Lebenswerk des belasteten früheren Erzbischofs Zollitsch zu unterlassen.
Forensiker: Aufarbeitung durch Staat nötig
Mit Blick auf das Thema Missbrauch in den Kirchen kritisierte der Forensiker Harald Dreßing im Deutschlandfunk die Aufarbeitung im Allgemeinen: Alle Aktivitäten der katholischen Kirche nach Veröffentlichung der MHG-Studie zur sexuellen Gewalt an Kindern seien unzureichend.
Die MHG-Studie entstand an den Universitäten Mannheim, Heidelberg und Gießen und trägt den Titel: „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“. Dreßing forderte stattdessen: Nötig sei eine Aufarbeitung durch den Staat.
Diese Nachricht wurde am 18.04.2023 im Programm Deutschlandfunk gesendet.
https://www.deutschlandfunk.de/
BERICHT WIRD AM 18. APRIL VORGESTELLT
Sexueller Missbrauch im Erzbistum Freiburg: Mindestens 600 Betroffene
STAND
10.4.2023, 16:15 UHR
Die Zahl der bisher bekannten Fälle sei nur die "Spitze des Eisbergs", sagt die Vorsitzende des Betroffenenbeirats. Sie hofft, dass sich bald noch mehr Opfer melden.
Rund 600 Kinder und Jugendliche haben im Zeitraum von 45 Jahren im Erzbistum Freiburg sexuelle Gewalt durch Priester und Ordensleute erfahren. Das teilte die Vorsitzende des Betroffenenbeirats der Freiburger Erzdiözese, Sabine Vollmer, der Deutschen Presse-Agentur mit. Sie geht allerdings von einer hohen Dunkelziffer aus.
"Das ist nur die Spitze des Eisbergs. Es gibt sehr viele Betroffene, die immer noch Schuld- und Schamgefühle haben und sich noch niemandem anvertraut haben", so Vollmer. Das seien insbesondere Menschen zwischen 50 und 80 Jahren. Vollmer hofft, dass diese Menschen "mit der Veröffentlichung des Missbrauchsberichts diese Gefühle überwinden und sich melden." Das sei wichtig, denn sexuelle Gewalt könne auch Jahre später noch Depressionen auslösen.
Missbrauchsbericht untersucht Verhalten der Bischöfe
Der schon länger angekündigte Missbrauchsbericht für das Erzbistum Freiburg soll nach Verzögerungen am 18. April 2023 veröffentlicht und vorgestellt werden. Nach SWR-Informationen ist der Bericht etwa 600 Seiten lang. Beleuchtet werden darin die vergangenen 45 Jahre, also die Zeit unter den Erzbischöfen Oskar Saier, Robert Zollitsch und Stephan Burger.
Zentral ist die Frage, was die Verantwortlichen über sexuellen Missbrauch gewusst, möglicherweise zugelassen oder sogar vertuscht haben. Ursprünglich hätte der Bericht am 25. Oktober 2022 erscheinen sollen. Nach Angaben des Bistums wurde die Veröffentlichung aus rechtlichen Gründen verschoben.
Hintergrund: Missbrauch-Aufarbeitung der AG Aktenanalyse
Der Missbrauchsbericht des Erzbistums Freiburg ist von der unabhängigen "Arbeitsgruppe Aktenanalyse" erstellt worden. In dieser Arbeitsgruppe haben vier externe Fachleute aus Justiz und Kriminalpolizei die Strukturen ausgewertet, die Vertuschung und Missbrauch in der Vergangenheit möglich gemacht hatten. Die AG Aktenanalyse war im Jahr 2018 eingesetzt worden und begann ihre Arbeit im Frühjahr 2019. Die Veröffentlichung des Berichts erfolgt durch die Erzdiözese, die dadurch eine öffentliche Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Arbeit der AG Aktenanalyse ermöglichen möchte.
Betroffene Gemeinden bleiben geheim
Mit Rücksicht auf die Opfer und Betroffenen sollen im Missbrauchsbericht keine Gemeinden und nur wenige Namen genannt werden. "In manchen Dörfern ist es bis heute schwierig, über die Vorfälle zu sprechen", so Vollmer. Es sei deshalb gut, dass der Bericht die Opfer schütze.
Für die Täter fordert sie hingegen rasche Konsequenzen. "Verantwortliche müssen mit Namen genannt werden und dann müssen - wo das noch möglich ist - Sanktionen erfolgen." Zuvor hatte auch der Freiburger Erzbischof Stephan Burger Konsequenzen in Aussicht gestellt.
Erzbischof Burger steht in seinem Büro im erzbischöflichen Ordinariat. (Foto: picture-alliance / Reportdienste, Philipp von Ditfurth)
GUTACHTEN IM APRIL ERWARTET
Freiburger Missbrauchsbericht: Erzbischof Burger fordert Konsequenzen
Schwere Vorwürfe gegen Erzbischof Zollitsch
Der frühere Freiburger Erzbischof und Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, hatte im Oktober Fehlverhalten im Umgang mit Missbrauchsvorwürfen eingestanden und um Entschuldigung gebeten. Betroffene kritisierten danach allerdings die Äußerungen des 84-Jährigen.
Missbrauch in der Kirche: Freiburger Ex-Erzbischof räumt Fehler bei Aufarbeitung ein
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Recherchen des ARD-Politikmagazins "Report Mainz" hatten ergeben, dass Zollitsch schon 1992 von den sexuellen Übergriffen eines Pfarrers wusste. Nach dessen Suizid bestand Zollitsch in einem Brief darauf, den Fall ruhen zu lassen, um den "Schaden zu begrenzen." Die Gemeinde wurde daraufhin nicht über den sexuellen Missbrauch informiert.
Missbrauchsvorwürfe erschüttern Katholische Kirche
Mit rund 1,8 Millionen Katholikinnen und Katholiken gehört das Erzbistum Freiburg im Breisgau zu den größten der 27 Diözesen in Deutschland. Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen erschüttert die katholische Kirche seit über zehn Jahren. So war es Jahrzehnte hinweg häufig gängige Praxis, Priester, die Kinder sexuell missbraucht hatten, in die nächste Gemeinde zu versetzen.
https://www.swr.de/
Übersicht
Chronik der kirchlichen Missbrauchs-Aufarbeitung – bundesweit und im Erzbistum Freiburg
Von kna
Sa, 15. April 2023 um 18:05 Uhr
Südwest | 2
Nach langem Schweigen begann 2010 die Aufarbeitung sexueller Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche in Deutschland. Wir dokumentieren die wichtigsten Etappen im Erzbistum Freiburg und bundesweit.
Januar 2010: Der Jesuit Klaus Mertes macht öffentlich, dass es an seiner Schule sexualisierte Gewalt und Missbrauch gab - und die Fälle lange verschleiert wurden. Der Skandal löst eine Welle von Enthüllungen in der Kirche und in anderen Institutionen aus.
Februar 2010: Die katholischen Bischöfe bitten bei ihrer Vollversammlung in Freiburg um Entschuldigung. Ein Sonderbeauftragter wird benannt, eine Hotline für Betroffene eingerichtet.
März 2010: Die Kirche sitzt mit am von der Bundesregierung eingerichteten Runden Tisch.
August 2010: Die Bischöfe verschärfen ihre "Leitlinien zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch". Glaubhaft verdächtigte Geistliche müssen umgehend vom Dienst suspendiert werden.
2010: In Freiburg beruft die Erzdiözese die erste unabhängige Missbrauchsbeauftragte.
2013: In Freiburg gibt es Kritik am damaligen Erzbischof Robert Zollitsch. Er soll in einem der schlimmsten Missbrauchsfälle der Diözese, im Schwarzwaldort Oberharmersbach, vertuscht haben.
März 2014: Die Bischöfe beauftragen einen Forschungsverbund um den Mannheimer Psychiater Harald Dreßing mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung.
September 2018: Vorstellung einer bundesweiten Untersuchung (MHG-Studie). Demnach gab es von 1946 bis 2014 rund 3.700 Betroffene sexueller Übergriffe. Beschuldigt werden 1.670 Priester und Ordensleute, davon sind 190 aus dem Erzbistum Freiburg. Experten gehen von einer hohen Dunkelziffer aus.
Die Bischöfe verpflichten sich, Betroffene und externe unabhängige Fachleute stärker in die Aufarbeitung einzubeziehen.
November 2018: In Freiburg beruft Erzbischof Stephan Burger eine Aufarbeitungskommission.
Anfang 2019: In Freiburg Arbeitsbeginn für die Missbrauchsstudie.
Dezember 2019: Die Bischofskonferenz veröffentlicht erneut verschärfte Leitlinien zum Umgang mit Missbrauchsfällen.
März 2020: Die Bischöfe beschließen ein neues Konzept zur Wiedergutmachung. Opfer können künftig mit deutlich höheren Schmerzensgeldzahlungen als bisher rechnen. Die Kirche orientiert sich an der zivilrechtlichen Schmerzensgeld-Tabelle und entsprechenden Gerichtsurteilen. Dies bedeutet für sexuellen Missbrauch Summen zwischen 5.000 und 50.000 Euro pro Fall.
Juni 2020: Die Bischöfe und der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes Wilhelm Rörig, unterzeichnen eine Vereinbarung zur Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch. Demnach soll die Aufarbeitung transparent und nach einheitlichen Kriterien erfolgen. Auch sollen unabhängige Experten an dem Prozess teilnehmen.
August 2020: Die katholischen Ordensgemeinschaften stellen die Ergebnisse einer Mitgliederbefragung zum Thema Missbrauch vor: Es gibt Missbrauchsvorwürfe gegen mindestens 654 katholische Ordensleute und wenigstens 1.412 betroffene Kinder, Jugendliche und Schutzbefohlene.
Dezember 2020: Gründung der Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistung (UKA). Sieben Fachleute aus den Bereichen Recht, Medizin und Psychologie sollen unabhängig über die Höhe der Zahlungen an Betroffene entscheiden.
Juli 2021: In Freiburg Gründung des Betroffenenbeirats aus zwei Frauen und zwei Männern.
Oktober 2021: In Freiburg Gründung der unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der Erzdiözese unter Leitung des Theologen Magnus Striet.Als bundesweit einziges Bistum unterstützt Freiburg sehr schwer Betroffene mit einer Art monatlichen Grundversorgung in Höhe von 200 bis 800 Euro.
Februar 2022: Laut UKA-Jahresbericht gingen 2021 rund 9,4 Millionen Euro an Betroffene.
Oktober 2022: In einem Video bekennt sich der emeritierte Freiburger Erzbischof Zollitsch zu Fehlern im Umgang mit Missbrauch. Er bittet Betroffene um Verzeihung.
März 2023: Mit dem Osnabrücker Bischof Franz-Josef Bode tritt erstmals ein katholischer Bischof im Zusammenhang mit dem Missbrauchsskandal zurück.
18. April 2023: Veröffentlichung des ersten umfassenden Berichts zu Missbrauch im Erzbistum
Hintergrund: Erzbistum Freiburg: Missbrauchsbericht untersucht Führungsversagen
Ressort: Südwest
Dossier: Missbrauchsbericht Freiburg
https://www.badische-zeitung.de/
Update am Morgen :Kirche vor Gericht
von Ilka Brecht
Datum:
01.11.2022 06:28 Uhr
Guten Morgen,
erster November, Allerheiligen, ein katholischer Feiertag. An diesem Tag werden nicht nur die vom Papst heiliggesprochenen Frauen und Männer geehrt, erklärt das Erzbistum Köln auf seiner Internetseite, sondern auch jene Unbekannten, die ihren Glauben still gelebt und konsequent christlich gehandelt haben. Die Kirche schwelgt in Heiligkeit - für Georg Menne könnte das wie Hohn klingen, zumindest beim Kölner Erzbistum.
Er war 13 Jahre alt und Messdiener in der Diözese, als er von einem katholischen Priester erstmals sexuell missbraucht wurde. Hunderte Male folgten, sieben lange Jahre ging sein Martyrium, schildert Menne im Interview - "frontal" berichtet heute um 21 Uhr im ZDF. Der Fall kommt auch in einem Gutachten vor, dem sogenannten Gercke-Report. Demnach erfährt das Erzbistum bereits 1980 von Vorwürfen gegen den Priester, aber nach einer Therapie wird er wieder auf die Gemeinden losgelassen.
Erst nach erneuten Vorwürfen und Jahrzehnte später untersagen die Kirchenoberen dem Mann die priesterlichen Dienste. Zu spät, heißt es im Gutachten. Den Verdachtsfällen sei nicht konsequent nachgegangen worden, die Opfer habe man vernachlässigt. Anders ausgedrückt: das konsequente christliche Handeln, das an Allerheiligen gefeiert wird, fand offenbar nicht statt. Im Gegenteil.
Das Fazit könnte demnächst vor einem weltlichen Gericht entscheidend werden. Denn seinen inzwischen verstorbenen Peiniger kann Georg Menne zwar nicht mehr zur Verantwortung ziehen, aber er hat das Kölner Erzbistum wegen "Amtspflichtverletzung durch Unterlassen" verklagt. 805.000 Euro will Menne insgesamt erstreiten - und Gerechtigkeit. Denn bislang billigte die katholische Kirche Missbrauchsopfern wie Menne lediglich freiwillige Zahlungen zu. "Anerkennung des Leids" nennt sie das - und umgeht so ein rechtliches Eingeständnis ihrer Schuld.
Anfang Dezember beginnt der Prozess "Menne gegen das Erzbistum Köln". Es ist die erste Schmerzensgeldklage gegen die katholische Kirche in Deutschland - und womöglich nicht die letzte.
https://www.zdf.de/
Katholische Kirche vor Gericht
Schmerzensgeld für Missbrauchsopfer
von Michael Haselrieder und Michael Strompen
Die katholische Kirche ist reich. In Deutschland ist sie einer der größten privaten Grundbesitzer und verfügt über ein Milliardenvermögen. Bei der Entschädigung Betroffener von sexuellem Missbrauch sei sie jedoch äußerst knausrig, so Opfer-Vertreter.
Videolänge:9 min Datum:01.11.2022
Verfügbarkeit:
Video verfügbar bis 01.11.2024
Die katholische Kirche in Deutschland nennt es "Anerkennung des Leids" – kein Schmerzensgeld, sondern eine freiwillige Zahlung. So umgeht sie ein rechtliches Eingeständnis ihrer Schuld.
Dass es auch anders geht, zeigt das Beispiel Irland. Dort hat die katholische Kirche Grundstücke und Immobilien verkauft, um Entschädigungen zwischen 70.000 und 300.000 Euro an jeden Betroffenen zahlen zu können.
https://www.zdf.de/
Erzbistum Köln
Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Woelki
Stand: 09.11.2022 20:06 Uhr
Nachdem eine frühere Mitarbeiterin der Personalabteilung des Erzbistums den Kardinal schwer belastet hat, ermittelt jetzt die Staatsanwaltschaft Köln gegen Rainer Maria Kardinal Woelki.
Eine ehemalige Mitarbeiterin hat den Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki beschuldigt, frühzeitig über Missbrauchsvorwürfe gegen den früheren Sternsinger-Chef Winfried Pilz informiert worden zu sein. Woelki hatte in zwei eidesstattlichen Versicherungen vor Gericht erklärt, erst im Juni dieses Jahres mit Missbrauchs-Vorwürfen gegen Winfried Pilz befasst gewesen zu sein. In einem Interview mit dem "Kölner Stadt-Anzeiger" sagt nun die frühere Assistentin des Personalchefs im Erzbistum, sie habe schon 2015 für den Kardinal eine Liste mit früheren Missbrauchstätern erstellt und den Kardinal persönlich damit befasst. Sie habe es "nicht mehr ausgehalten (...), Dinge aus erster Hand zu wissen, die den öffentlichen Aussagen von Kardinal Woelki widersprechen, speziell zum Fall des früheren Sternsinger-Präsidenten Winfried Pilz", sagt die frühere Assistentin des Personalchefs im Erzbistum der Zeitung.
Mitarbeiterin erstellte Liste mit 14 Namen
Auf der Liste, die sie erstellt habe, hätten 14 Namen gestanden, darunter der von Pilz. Ihr Chef habe die Liste in ein Gespräch mit Woelki mitgenommen. Hinterher habe sie ihren Chef gefragt, was Woelki zu der Liste gesagt habe. Darauf habe dieser geantwortet: "Das hat den Kardinal überhaupt nicht interessiert." Sie sei daraufhin "wie versteinert" gewesen. Auf die Frage, ob sie wegen ihres Gangs an die Öffentlichkeit arbeitsrechtliche Konsequenzen fürchte, sagt die Frau der Zeitung: "Wenn das Erzbistum das versuchen sollte, dann ist das eben so." Sie stelle aber eine Gegenfrage, nämlich, ob der Dienstgeber keine Loyalitätspflichten habe. "Ich finde, wie der Erzbischof hier mit den Tatsachen umgeht und sich nicht einmal im Ansatz bemüht, zumindest intern Klarheit zu schaffen, das ist eine Missachtung des Einsatzes und der guten Arbeit der Mitarbeitenden." Was der Erzbischof sage, sei illoyal - auch ihr gegenüber als Verfasserin der Liste.
Erzbistum weist Vorwürfe erneut zurück
Nachdem die Kölner Staatsanwaltschaft noch Ende September die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wegen mangelnden Anfangsverdachts abgelehnt hatte, hat sie laut Oberstaatsanwalt Ulf Willuhn am Mittwoch förmliche Ermittlungen aufgenommen. Für das Erzbistum ist das keineswegs die Bestätigung der Vorwürfe gegen Woelki: Vielmehr werde nun geprüft, ob sich ein Verdacht erhärte. "Auch dieser erneute Versuch, Kardinal Rainer Maria Woelki eine falsche Eidesstattliche Versicherung zu unterstellen, ist unbegründet", teilte ein Sprecher des Erzbistums am Nachmittag mit.Das Erzbistum will jetzt zudem prüfen, ob es gegen die ehemalige Mitarbeiterin im Generalvikariat, die seit vielen Jahren an einer anderen Stelle eingesetzt ist, arbeitsrechtliche Schritte einleitet.
Erzbistum: Suche nach weiteren Opfern sexueller Gewalt
https://www1.wdr.de/
Quelle: wdr.de
https://www.tagesschau.de/
Ermittler: Verfahren gegen Ratzinger und Wetter eingestellt
Die Staatsanwaltschaft hat ihre Ermittlungen wegen einer möglichen Beihilfe zum Missbrauch gegen die früheren Münchner Erzbischöfe Joseph Ratzinger und Friedrich Wetter eingestellt. Es habe sich kein Verdacht für strafbares Handeln ergeben, hieß es.
Von
Petr Jerabek
21.03.2023, 15:04 Uhr
Bei ihren Ermittlungen im Zusammenhang mit dem Missbrauchsgutachten in der Erzdiözese München und Freising hat die Staatsanwaltschaft München I zeitweise auch die früheren Erzbischöfe Friedrich Wetter und Joseph Ratzinger als Beschuldigte geführt. Die Ermittlungen wegen einer möglichen Beihilfe zum Missbrauch wurden aber eingestellt, wie die Staatsanwaltschaft mitteilte. Es habe sich kein hinreichender Verdacht für strafbare Handlungen der kirchlichen Personalverantwortlichen ergeben.
Die Hürden für eine strafrechtliche Verfolgung der Beihilfe seien allerdings hoch, sagte der Leitende Oberstaatsanwalt Hans Kornprobst bei einer Pressekonferenz. So verjähre beispielsweise mit der Haupt-Tat - wie zum Beispiel einem sexuellen Missbrauch - auch die Beihilfe, was weitere Ermittlungen unmöglich mache.
Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., war von 1977 bis 1982 Erzbischof von München und Freising, Wetter stand von 1982 bis 2007 an der Spitze der Erzdiözese. Unabhängig vom Ende der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen laufen am Landgericht Traunstein Vorbereitungen für einen Gerichtsprozess wegen der Zivilklage eines Missbrauchsopfers aus Bayern. Diese betrifft auch den verstorbenen Papst Benedikt XVI.
Sechs Fälle intensiv überprüft
45 Fälle hatte die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl, die für das Erzbistum das Missbrauchsgutachten erstellt hatte, der Staatsanwaltschaft übergeben. In 39 davon fand die Behörde in einem Vorprüfungsverfahren keinen Ansatzpunkt für weitere Untersuchungen, wie Staatsanwältin Angela Miechielsen erläuterte. Sechs Fälle, in denen Missbrauchstäter weiterhin in der Seelsorge eingesetzt worden waren und es Hinweise auf erneute und noch nicht verjährten Vergehen gab, seien in gesonderten Ermittlungsverfahren untersucht worden.
Die Staatsanwältin betonte, dass es in keinem Fall Anhaltspunkte dafür gegeben habe, dass die kirchlichen Personalverantwortlichen selbst Missbrauch begangen hätten. Vielmehr hätten "Beihilfehandlungen" durch Personalentscheidungen im Raum gestanden. Ratzinger sei in zwei dieser Verfahren Beschuldigter gewesen, Wetter und der früheren Generalvikar Gerhard Gruber jeweils in fünf. Beim derzeitigen Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx, seien keine Anhaltspunkte für strafrechtlich relevantes Verhalten festgestellt worden.
"Giftschrank" längst aufgelöst
In fünf Fällen waren die möglichen Missbrauchstaten laut Staatsanwaltschaft bereits verjährt oder nicht nachweisbar. In einem Fall habe nicht nachgewiesen werden können, dass Kardinal Wetter bereits vorher von Missbrauchsvorwürfen gewusst und den Priester dennoch im Dienst gelassen habe. "Er selbst sagte, er habe keine Erinnerung", sagte Miechielsen.
Im Zusammenhang mit diesem Fall durchsuchte die Staatsanwaltschaft Ende Februar auch das Ordinariat, also die Verwaltungsbehörde der Erzdiözese, sowie das Erzbischöfliche Palais und damit den Amtssitz von Kardinal Marx. Der Verdacht, dass Akten versteckt worden sein könnten, bestätigte sich dabei nicht. Laut Miechielsen ergab die Durchsuchung, dass es früher einen "sogenannten Giftschrank gab, der aber längst aufgelöst wurde". Die Unterlagen daraus seien "zu den Personalakten der jeweiligen Priester gegeben" worden.
Mit der Einstellung der Verfahren sei die Prüfung der Staatsanwaltschaft möglicher Straftaten kirchlicher Verantwortlicher abgeschlossen, sagte die Staatsanwältin. Sollten Betroffene aber in nicht verjährten Fällen noch Anzeige erstatten, könne das eingestellte Ermittlungsverfahren auch wieder aufgenommen werden.
Oberstaatsanwalt verweist auf "Dunkelfeld"
Das Missbrauchsgutachten der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) sei sicher von sehr großer Bedeutung für die kircheninterne Aufarbeitung und die gesellschaftliche Debatte, sagte Kornprobst. "Für unsere Arbeit, für die Strafverfolgung, waren diese Daten jedoch von sehr, sehr geringem Nutzen." Viele der im Gutachten geschilderten Fälle seien verjährt oder strafrechtlich nicht relevant gewesen, andere seien der Justiz schon bekannt gewesen.
Die Erfahrung zeige, dass Missbrauchstaten "kaum jemals durch Auswertung von Akten aufgeklärt oder entdeckt" würden, "sondern in aller Regel dadurch, dass ein Geschädigter, eine Geschädigte Strafanzeige erstattet und so ein Ermittlungsverfahren in Gang bringt". Der Oberstaatsanwalt verwies zugleich auf ein Dunkelfeld: "Wir müssen davon ausgehen, dass bei weitem nicht alle Fälle angezeigt wurden."
"Keine strafrechtlichen Sonderrechte" für Kirche
Kornprobst wies zugleich Vorwürfe zurück, die Justiz würde die Kirche mit Samthandschuhen behandeln. Kein Staatsanwalt und keine Staatsanwältin seiner Behörde habe "Hemmungen, gegen einen Geistlichen oder sonstigen Angehörigen der Kirche" zu ermitteln. Die Kirche besitze keine strafrechtlichen Sonderrechte.
Dem Erzbischöflichen Ordinariat bescheinigte der Leitende Oberstaatsanwalt, es habe sich sichtlich bemüht, die 2018 aufgenommenen Ermittlungen zu unterstützen. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass die Kirche der Staatsanwaltschaft relevante Unterlagen vorenthalten habe. "Vielmehr war das Handeln der Diözese während der gesamten Untersuchungen geprägt von uneingeschränkter Kooperation und getragen auch von unbedingtem Aufklärungswillen."
Kritik von Grünen und FDP
Grüne und FDP im bayerischen Landtag erneuerten ihre Kritik an der bayerischen Justiz, weil ein erstes Missbrauchsgutachten der Kanzlei WSW von 2010 erst Jahre später überprüft worden sei. Der parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion, Matthias Fischbach, twitterte, bei Erstellung des erstens Gutachtens seien mehrere Missbrauchsfälle noch nicht verjährt gewesen. Das sei bei der heutigen Pressekonferenz indirekt herausgekommen. "Umso sträflicher ist das staatliche Wegsehen."
Laut der religionspolitischen Sprecherin der Grünen-Landtagsfraktion, Gabriele Triebel, beweist der Bericht der Staatsanwaltschaft, dass Kirchenverantwortliche vom sexuellen Missbrauch durch Priester gewusst hätten. "Dass diese Fälle verjährt und damit strafrechtlich nicht mehr relevant sind, zeugt von Führungsversagen im Justizministerium." Schon vor zehn Jahren habe ein Gutachten auf dem Tisch gelegen und sei "einfach ignoriert" worden. "Solch eine Sonderbehandlung der Kirchen darf es nie mehr geben!"
Der Leitende Oberstaatsanwalt Kornprobst sagte während der Pressekonferenz dazu, aus heutiger Sicht wäre es besser gewesen, wenn die Staatsanwaltschaft dieses Gutachten schon gleich nach Fertigstellung erhalten hätte. "Zwar hätte dies strafrechtlich nach heutigen Erkenntnissen zu keinen wesentlich anderen Ergebnissen geführt, man hätte dadurch aber entsprechenden Spekulationen vorgebeugt."
Das BR24live zur Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft:
https://www.br.de/
Klage gegen Papst Benedikt XVI.: Verhandlung droht Verschiebung
16.03.2023, 11:31 Uhr
Die Verhandlung über die Klage eines Missbrauchsopfers aus Bayern, die auch den verstorbenen Papst Benedikt XVI. betrifft, droht, verschoben zu werden. Eine erste mündliche Verhandlung beim Landgericht Traunstein war ursprünglich Ende März angesetzt.
Von
Antje Dechert
Eigentlich hatten sich alle Prozessbeteiligten bereits auf den 28. März als ersten Verhandlungstermin geeinigt. Am Landgericht Traunstein laufen entsprechende Vorbereitungen – auch, weil man dort ein großes internationales Medieninteresse erwartet.
Zum Artikel: Neues Vatikandokument belastet Ex-Papst im Fall Peter H.
Denn die Zivilrechtsklage eines 38-jährigen Mannes aus Oberbayern, der angibt, als Kind in Garching an der Alz von dem ehemaligen Priester H. sexuell missbraucht worden zu sein, richtet sich auch gegen den am Silvesterabend verstorbenen emeritierten Papst Benedikt XVI. Doch nun wackelt der Verhandlungstermin.
Essener Missbrauchstaten bei Übernahme nach München bekannt
Joseph Ratzinger war Erzbischof von München und Freising, als H. Anfang der 1980er Jahre vom Bistum Essen ins Erzbistum München und Freising kam. Schnell wurde er dort wieder in der Seelsorge eingesetzt, obwohl kirchenintern Übergriffe aus seiner Zeit in Essen bekannt waren. Beklagt sind neben dem verstorbenen Ex-Papst auch der ehemalige Erzbischof von München und Freising, Kardinal Friedrich Wetter, das Erzbistum München und Freising und der Täter H., der inzwischen aus dem Klerikerstand entlassen wurde.
Wie aus einer Verfügung des Landgerichts Traunstein vom Mittwoch hervorgeht – das Schreiben liegt dem BR, Correctiv und der ZEIT vor –, haben die Münchner Anwälte der Kanzlei Hogan Lovells, die den verstorbenen Benedikt XVI. in dem Prozess vertreten, dem Landgericht Traunstein "telefonisch mitgeteilt, dass sie das Verfahren (…) nicht bis 28.03.2023 aufnehmen können".
Unklare Rechtsnachfolge Grund für drohende Verschiebung
Grund dafür sei, dass die Kanzlei den Rechtsnachfolger des verstorbenen Papstes noch nicht kenne. Denn anders als in Strafverfahren wird ein Zivilverfahren gegen einen Beklagten nicht eingestellt, sobald dieser stirbt. Die Anwälte des verstorbenen Benedikt XVI. gehen davon aus, "dass innerhalb der nächsten 3 Monate die Frage der Rechtsnachfolge geklärt sein dürfte und eine Aufnahme des Verfahrens möglich wäre", heißt es in dem Schreiben des Landgerichts.
Noch im Januar hatten die Anwälte des verstorbenen Benedikt dem Landgericht ihre Absicht mitgeteilt, den Termin am 28.03.2023 wahrzunehmen und die Frage der Rechtsnachfolge bis dahin zu klären.
Verschiebung oder Klage gegen verstorbenen Papst isolieren?
Das Gericht bietet den anderen Verfahrensbeteiligten nun zwei Möglichkeiten an: Den Verhandlungsbeginn um drei Monate zu verschieben oder das Verfahren gegen den verstorbenen Papst abzutrennen.
Bis Mitternacht müssen sich nun die Rechtsvertreter der anderen Parteien dazu äußern. "Die Frist musste so kurz gesetzt werden, da die Vorbereitungen für den Termin bereits laufen." Der Anwalt des Klägers teilte dem BR, CORRECTIV und der ZEIT auf Anfrage mit, dass er sich gegen eine Abtrennung des Verfahrens aussprechen wird.
https://www.br.de/
Missbrauch ist furchtbar": Wirbel um Durchsuchung im Erzbistum
Bei den Ermittlungen zum Missbrauchsskandal soll der Amtssitz des Münchner Kardinals Marx durchsucht worden sein. Betroffene werten das als Kurswechsel der Justiz. Minister Eisenreich widerspricht, sichert aber konsequente Ermittlungen zu.
27.02.2023, 18:18 Uhr
Von
Petr Jerabek
Die Schlagzeile sorgte für Spekulationen über einen Kurswechsel der Justiz im Umgang mit der katholischen Kirche: "Staatsanwälte beim Münchner Erzbischof". Nach Informationen der "Süddeutschen Zeitung" haben Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei im Zuge der Ermittlungen zum Missbrauchsskandal zwei zentrale Einrichtungen des Erzbistums München und Freising durchsucht: das Ordinariat, also die Verwaltungsbehörde der Erzdiözese, sowie das Erzbischöfliche Palais und damit den Amtssitz von Kardinal Reinhard Marx - gegen den sich aber kein Verdacht der Justiz richte.
Eine offizielle Bestätigung der Durchsuchung, die schon am 16. Februar stattgefunden haben soll, gibt es bisher zwar nicht. Der Sprecher der Betroffeneninitiative Eckiger Tisch, Matthias Katsch, sprach dennoch von einer bemerkenswerten Aktion. "Hoffentlich ist es ein Zeichen für einen Kurswechsel der Justiz im Umgang mit der Kirche", sagt er der Deutschen Presse-Agentur. Nach Meinung des Vorsitzenden des Betroffenenbeirats der Erzdiözese, Richard Kick, kommt "nach mehr als zehn Jahren des Wegschauens der bayerischen Staatsregierung endlich Bewegung in die Sache".
Zum Artikel: "Münchner Missbrauchsgutachter Wastl kritisiert Aufarbeitung"
Minister: Staatsanwaltschaften setzen keine politischen Zeichen
Der bayerische Justizminister Georg Eisenreich (CSU) wollte sich zwar zum konkreten Einzelfall nicht äußern, stellte aber klar: "Die Staatsanwaltschaften setzen mit Durchsuchungen kein politisches Zeichen, sondern sie suchen nach Beweismitteln." Der CSU-Politiker versicherte, dass die bayerischen Staatsanwaltschaften "konsequent ermitteln, wenn sie hinreichende Anhaltspunkte haben, also wenn es einen Anfangsverdacht gibt". Darauf könnten sich die Menschen in Bayern verlassen.
Niemand stehe in Bayern über dem Gesetz: "kein Politiker, kein Wirtschaftsboss und auch kein Geistlicher." Es habe im kirchlichen Bereich seit 2010 mehrere hundert Ermittlungs- und Vorermittlungsverfahren gegeben und seit 2017 bereits 39 Durchsuchungen bei Geistlichen und Kirchenangehörigen. "Kindesmissbrauch ist furchtbar, der Missbrauchsskandal in der Kirche auch, und wir haben hochmotivierte, entschlossene Staatsanwälte und Staatsanwältinnen, die eine gute Arbeit machen", sagte Eisenreich. Voraussetzung dafür aber sei, dass sie von einer Straftat Kenntnis erlangen. "Deshalb meine Bitte an alle Betroffenen: Erstatten Sie Anzeige!"
Söder: Kirche hat sich zu spät "der vollen Realität gestellt"
Ähnlich wie Eisenreich reagierte auch der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) auf Fragen zu der Durchsuchungsaktion. "Das ist eine Sache der Justiz", sagte er im Münchner Presseclub.
Zugleich beklagte Söder grundsätzlich, dass die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals zu spät begonnen habe und zu lang dauere. Das Hauptproblem sei, dass sich die Kirche zu spät "der vollen Realität gestellt" habe, sagte der Ministerpräsident. Die Verzögerung habe bei vielen Menschen, insbesondere Betroffenen, Zweifel am Aufklärungswillen geweckt. Später sei dann zwar "viel geleistet worden". Da aber viel Vertrauen verloren gegangen sei, gebe es bis heute eine Diskrepanz zwischen der öffentlichen Wahrnehmung und dem, was sich schon getan habe.
"Fall 26": Trotz Verurteilung Kontakt zu Ministranten
Bei der Durchsuchungsaktion gingen die Ermittler laut "SZ" dem Verdacht nach, dass es im Bistum eine Art "Giftschrank" mit heiklen Unterlagen zum Missbrauchsskandal geben könnte. Die Staatsanwälte und Polizisten sollen aber nichts gefunden haben. Eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft München I sagte auf BR-Anfrage, über laufende Ermittlungen könne die Behörde keine Auskünfte geben. Es werde aber voraussichtlich zum Abschluss der Ermittlungen Informationen für die Medien geben. Sie verwies darauf, dass die Staatsanwaltschaft München I mit der Prüfung von mehr als 40 Fällen aus dem Missbrauchsgutachten der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) befasst sei, in denen ein Fehlverhalten kirchlicher Verantwortungsträger vorliegen könnte.
Laut "SZ" ging es bei der Durchsuchung um "Fall 26" aus dem Missbrauchsgutachten: um den Umgang der Kirche mit einem inzwischen verstorbenen Priester, der in den 60er-Jahren wegen mehrfachen Kindesmissbrauchs zu fünf Jahren Haft verurteilt worden sei. Trotzdem sei er später wieder in der Seelsorge eingesetzt worden - konkret in einem Krankenhaus. Dort soll er noch Anfang der 2000er Jahre Kontakt zu Ministranten gehabt, ihnen Zugang zu seiner Privatsauna gewährt haben und mit ihnen in den Urlaub gefahren sein. Kirchenrechtlich sei der Priester nie sanktioniert worden.
Minister fordert bayerische Bistümer zum Handeln auf
Laut Justizminister Eisenreich muss bei den Missbrauchsvorwürfen zwischen der strafrechtlichen Verfolgung und der historischen Aufarbeitung unterschieden werden. Missbrauchsstudien und Gutachten hätten sich in der Vergangenheit für die Strafverfolgung als wenig hilfreich erwiesen - mögliche Täter seien häufig schon gestorben oder die Taten verjährt. Für die historische Aufarbeitung seien diese Studien aber notwendig und wertvoll. Dies sei Sache der Kirche.
"Die Kirche hat sich auf den Weg gemacht, der noch nicht abgeschlossen ist", sagte Eisenreich. Mit der sogenannten MHG-Studie zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche sei ein großer Schritt getan worden. Es sei gut, dass einige Diözesen bereits darüber hinaus eigene Gutachten in Auftrag gegeben hätten - München, Passau und Würzburg. "Die anderen Diözesen in Bayern sollten diesem Beispiel folgen", forderte der Minister. Weitere Bistümer im Freistaat sind Augsburg, Bamberg, Eichstätt und Regensburg.
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Verfahren gegen pädophilen Ex-Priester beginnt in Traunstein
01.02.2023, 16:44 Uhr
Am 28. März beginnt am Landgericht Traunstein das Verfahren gegen den Ex-Priester und Missbrauchstäter Peter H.. Er muss persönlich erscheinen oder einen Anwalt schicken. Auch eine Vertretung des Erzbistums München und Freising muss kommen.
Von
Birgit Rätsch
Andrea Neumeier
Der pädophile Sexualstraftäter und ehemalige Priester Peter H., der mutmaßlich mehrere Jungen auch in Garching an der Alz sexuell missbraucht haben soll, muss am 28. März vor dem Landgericht Traunstein persönlich erscheinen. Das hat das Landgericht Traunstein angeordnet. Hintergrund ist die Zivilklage eines der Betroffenen.
Ex-Priester Peter H. und Erbistum München geladen
In einem Schreiben des Landgerichts Traunstein, das dem Redaktionsnetzwerk CORRECTIV, dem Bayerischen Rundfunk und der Wochenzeitung "Die Zeit" vorliegt, fordert das Gericht neben dem pädokriminellen Ex-Priester H. auch einen "Vertreter" der Erzdiözese München und Freising auf, nach Traunstein zu kommen. Weder Kardinal Friedrich Wetter noch der Rechtsnachfolger des verstorbenen Papst emeritus Benedikt XVI. sind zu diesem Termin geladen. Wetter hatte wegen der Amtshaftung durch das Erzbistum für sich eine Klageabweisung beantragt. Benedikts Anwälte hatten eine Aussetzung beantragt, bis ein Rechtsnachfolger gefunden sei.
Fall H. steht beispielhaft für Umgang mit Missbrauchstätern
Der Fall H. sorgte deutschlandweit für besonderes Aufsehen, weil er nahezu beispielhaft steht für den Umgang der katholischen Kirche mit Missbrauchstätern: Die Übergriffe an mindestens 29 Buben wurden jahrzehntelang gedeckt, obwohl die Pädophilie des Priesters seit Ende der 1970er-Jahre im Bistum Essen aktenkundig war. Statt ihn zu suspendieren, schickte die Essener Bistumsleitung Peter H. 1980 zur Therapie nach München. Dort wurde er an mehrere Orte in Oberbayern versetzt.
Erzbischof bei dem Wechsel von H. nach München war damals Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI. Er nahm an einer Sitzung teil, in der über diese Frage beraten wurde. Dass er von der Vorgeschichte des damaligen Priesters wusste, bestritt Benedikt XVI. bis zuletzt; ebenso, dass er davon Kenntnis hatte, dass H. erneut in der Seelsorge eingesetzt wurde.
Missbrauchsfälle sind strafrechtlich schon verjährt
1986 verurteilte ihn das Amtsgericht Ebersberg wegen sexuellen Missbrauchs von minderjährigen Buben. Doch Peter H. wurde erneut nur versetzt, dieses Mal nach Garching an der Alz. Damals war bereits Friedrich Wetter Erzbischof von München und Freising. Als 2010 zahlreiche Missbrauchsfälle innerhalb der katholischen Kirche öffentlich wurden, sorgte auch der Fall H. für Entrüstung.
Strafrechtlich sind die Vorwürfe verjährt, können also in einem Strafrechtsprozess nicht mehr aufgearbeitet werden. Der Berliner Rechtsanwalt Andreas Schulz hat nun aber für ein mutmaßliches Opfer von Peter H. zivilrechtlich eine Feststellungsklage eingereicht und fordert Schadensersatz. Die Zivilklage richtete sich gegen den ehemaligen Priester, das Erzbistum München und Freising, Kardinal Friedrich Wetter, aber auch gegen den mittlerweile verstorbenen Papst emeritus Benedikt XVI. beziehungsweise gegen dessen Rechtsnachfolger.
Peter H. könnte auch einen Anwalt vor Gericht schicken
Ende Januar hatte das Erzbistum München und Freising mitgeteilt: Man verzichte darauf, sich in dem Prozess auf die Verjährung der Taten zu berufen. Das Erzbistum signalisierte damit, eine angemessene Lösung für Schmerzensgeld und Schadenersatz finden zu wollen.
Obwohl das Landgericht Traunstein das "persönliche Erscheinen" von Peter H. angeordnet hat, ist noch ist nicht klar, ob der mittlerweile 76-Jährige auch tatsächlich vor Gericht erscheinen wird. Er könnte zum Beispiel seinen Rechtsanwalt schicken. "Ich erwarte, dass ein ehemaliger Fußsoldat Gottes den Mut aufbringt, dem Kläger in die Augen zu sehen", sagte der Klägeranwalt Andreas Schulz.
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